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Das EU-Parlament im Dilemma

Das EU-Parlament ist noch nicht zufrieden mit dem langfristigen EU-Budget und dem Wiederaufbau-Programm Next Generation EU. Die Verhandlungsmöglichkeiten des Parlaments sind aber trotz Veto begrenzt.

Das Dilemma des EU-Parlaments: Nimmt es den Spatz in der Hand oder greift es nach der Taube auf dem Dach?

Während des EU-Gipfels Mitte Juli einigte sich der europäische Rat auf ein Rettungs- und Wiederaufbau-Programm. Es war die Reaktion auf die Corona-bedingte Wirtschaftsrezession. Nachdem die Staatschefinnen sich nach vier Verhandlungstagen und -nächten einigen konnten, feierten die Kommentatorinnen das historische Resultat.

Doch das Wiederaufbau-Programm ist noch nicht im Trockenen. Es fehlt die Zustimmung des europäischen Parlaments. 

Am heutigen Donnerstag, dem 27. August, trifft sich das Verhandlungsteam des Parlaments ein erstes Mal mit einer Delegation des Rats. Weil Deutschland aktuell die EU-Ratspräsidentschaft innehat, übernimmt der deutsche Botschafter Michael Clauss die Verhandlungsleitung für den Rat.

Die Position des Parlaments

Die Mehrheit der Parlamentarierinnen befürwortet das Rettungspaket. Vor allem freuen sie sich über die Entscheidung, dass erstmals gemeinsame EU-Schulden aufgenommen werden. Vier Punkte stossen dem europäischen Parlament jedoch sauer auf:

  • Das langfristige Budget für zukunftsgerichtete Programme wie InvestEU, Horizon Europe (Forschung) und Erasmus+ (Bildung) wurde kaum erhöht. Wer die grüne Transformation eines ganzen Kontinents an die Hand nehmen will, muss mehr investieren.
  • Das europäische Parlament hat bei der Verwendung der Gelder im 750 Milliarden Wiederaufbau-Programm wenig zu sagen. Es sieht sich in seiner Funktion als demokratisches Kontrollorgan übergangen.
  • Die Rechtsstaatlichkeitsklausel ist so vage formuliert, dass niemand weiss, was sie genau bedeutet. Die Klausel soll bewirken, dass den Mitgliedstaaten EU-Gelder gestrichen werden, wenn sich ihre rechtsstaatliche Situation verschlechtert. Das Parlament ist eine Verfechterin einer möglichst strengen Klausel. Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn wehrten sich bisher erfolgreich dagegen.
  • Es ist noch unklar, wie die EU-Schulden zurückgezahlt werden. Das Parlament will, dass mehr Quellen für EU-Eigenmittel angezapft werden. Zu deutsch: Mehr Steuern, die direkt in das EU-Budget fliessen.

Der Kompromiss, auf den sich der europäische Rat geeinigt hatte, war hart erkämpft. Es ist unklar, wo noch Verhandlungsspielraum sein könnte. Das Parlament wird aber nicht klein beigeben wollen. Vor allem bei der Rechtsstaatlichkeitsklausel kann es keine vage Formulierung akzeptieren, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn diese Glaubwürdigkeit ist schon angeschlagen. Bei der Wahl der Kommissionspräsidentin im vergangenen Jahr konnte das Parlament seine Spitzenkandidaten nicht durchbringen. Das Parlament akzeptierte schliesslich die vom europäischen Rat vorgeschlagene Kandidatin: Ursula von der Leyen. 

Was ist das Parlament bereit zu riskieren?

Das europäische Parlament steht vor einem Dilemma. Traditionell setzt es sich für eine stärkere europäische Integration ein. Aus dieser Sicht spricht vieles für das Rettungspaket und die gemeinsame Schuldenaufnahme, auf die sich der europäische Rat geeinigt hatte. Es scheint sich nicht zu lohnen, dies mit einer zu harten Verhandlungstaktik zu riskieren. 

Andererseits steht das europäische Parlament auch für eine bestimmte Vision der europäischen Integration. In dieser Vision werden die wichtigsten politischen Entscheidungen von den Vertreterinnen der europäischen Bevölkerung getroffen, nicht von den Vertreterinnen der Nationalstaaten. Aus dieser Sicht sollte das europäische Parlament nicht klein beigeben.

Viele im Parlament stark vertretene Parteien sind auch in den nationalen Regierungen vertreten. Und es sind die nationalen Regierungschefinnen, die den vorliegenden Kompromiss im europäischen Rat verhandelt hatten. Die nationalen Regierungen werden versuchen, die Parlamentarierinnen über den Weg der nationalen Parteien unter Druck zu setzen. Das schwächt die Verhandlungsposition des Parlaments weiter.

Wieviel Wert hat das Parlamentsveto?

Der Trumpf des europäischen Parlaments ist dessen Veto-Recht. Keine nationale Regierung hat ein Interesse an den politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, die ein Veto des Parlaments zur Folge hätte. Aber auch dieser Trumpf muss relativiert werden. Jene Mitgliedstaaten, deren Regierungsinteressen am stärksten mit den Positionen des europäischen Parlaments kollidieren, sind nicht unbedingt jene, die das Rettungs- und Wiederaufbau-Paket am dringendsten nötig haben. Es ist schwierig, Viktor Orbán rechtsstaatliche Konzessionen abzuringen mit der Drohung, Italien und Spanien im Stich zu lassen.

Diese Verhandlungen werden für das europäische Parlament zu einem Balance-Akt. Im Verlaufe des Septembers sollten wir wissen, ob und wie das Parlament Akzente setzten konnte. 

PS für Leserinnen aus der Schweiz: Aus Sicht der Schweiz wird interessant sein, ob das Forschungsprogramm Horizon Europe und das Bildungsprogramm Erasmus+ mit einem grösseren Budget versehen werden. Die Schweiz würde gerne an diesen Programmen teilnehmen. Aufgrund der Verzögerungen beim Rahmenabkommen ist die Teilnahme aber nicht gesichert. Die Schweiz sollte ebenfalls beobachten, ob Rat und Parlament mehr Finanzquellen verbindlich beschliessen. Eventuell muss die Schweiz nachziehen, wenn die EU sich auf eine Digitalsteuer oder eine CO2-Abgabe an der Grenze einigt.