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Schweurope: Die EU anhand der Schweiz erklärt

Die europäischen Institutionen sind nicht immer einfach zu verstehen. Dieser Übersichtsartikel nähert sich ihnen anhand der politischen Institutionen der Schweiz.

Schweurope: EU erklärt anhand der Schweiz
Schweurope

“Wie funktioniert Europa?” ist die Leitfrage des Hauptstadt-Berichts. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, muss ich früher oder später auf die Institutionen zu sprechen kommen, die das EU-Konstrukt ausmachen. Früher oder später ist jetzt. Denn die EU macht jetzt Sommerferien. Und wenn sie aus den Sommerferien zurückkommt, wird sie mir keine Zeit lassen, mich nochmal mit den Grundlagen zu befassen.

Europa-Expertinnen beschreiben die EU als ein Konstrukt “sui generis”. Das heisst, es ist ein historisch einmaliges Gebilde, das nicht mit einem anderen Staat oder Staatengebilde vergleichbar ist. 

Ich – Rebell, der ich bin – vergleiche trotzdem. Denn verstehen und einordnen können wir nur, wenn wir neues Wissen mit vorhandenem verbinden.

Auf dieser Schweurope-Seite versuche ich den EU-Institutionen anhand der schweizerischen Institutionen näherzukommen. Denn dies sind die Institutionen, die ich kenne und die wahrscheinlich auch du kennst. Bisher sind vier wichtige EU-Institutionen hier erklärt, mehr werden hoffentlich folgen.

Glücklicherweise eignet sich der föderale, schweizerische Bundesstaat gut für den Vergleich mit der EU. Beide Konstrukte bestehen aus Gliedstaaten, die sich in einem nicht ganz reibungslosen Integrationsprozess zusammengeschlossen haben. In der Schweiz nennen wir sie Kantone, in der EU Mitgliedstaaten.

Der Vergleich bleibt notwendigerweise imperfekt. Vor allem sollten wir im Hinterkopf behalten, dass die Kompetenz der EU durch die EU-Verträge stärker beschränkt ist als die Kompetenz des schweizerischen Bundesstaats durch ihre Bundesverfassung. Zum Beispiel hat die EU kaum Kompetenzen in der Verteidigungspolitik.

Mit diesem Vorsichtsvotum im Hinterkopf geht es jetzt in die Vergleiche. 

Das europäische Parlament

Fakten
  • Aufbau: 705 Parlamentarierinnen (MEP), gewählt für 5 Jahre
  • Aufgabe: Mitbestimmung bei EU-Gesetzgebung und EU-Budget
  • Sitz: Strasbourg und Brüssel
  • Präsident: David Sassoli
  • offizielle Website: https://www.europarl.europa.eu/portal/de
Vergleich

Das europäische Parlament ist am ehesten mit dem schweizerischen Nationalrat vergleichbar. Beide Parlamente vertreten die Interessen der Bürgerinnen und werden direkt durch sie gewählt. Die Anzahl Parlamentarierinnen pro Mitgliedstaat/Kanton orientiert sich an der Anzahl Einwohnerinnen pro Mitgliedstaat/Kanton. Je höher die Einwohnerzahl, desto mehr Parlamentssitze. 

Im Gegensatz zum Nationalrat werden die kleinen Mitgliedstaaten im europäischen Parlament leicht bevorzugt, damit sie nicht nur eine Parlamentarierin senden können. So schickt Malta mit einer Bevölkerung von etwa 500’000 Einwohnerinnen sechs Parlamentarierinnen nach Brüssel (1 MEP pro 83’000 Einwohnerinnen), während Deutschland mit einer Bevölkerung von etwa 83 Millionen Einwohnerinnen 96 Parlamentarierinnen nach Brüssel entsendet (1 MEP pro 865’000 Einwohnerinnen). Im Nationalrat steigt die Anzahl Parlamentssitze pro Kanton linear proportional zur Bevölkerungszahl. Pro 42’000 Einwohnerinnen hat ein Kanton Anspruch auf einen Nationalratssitz.

Beide Parlamente können Entscheidungen nicht alleine fällen sondern nur gemeinsam mit der Vertretung der Mitgliedstaaten/Kantone. In der EU ist das der Ministerrat, in der Schweiz der Ständerat.

Der EU-Ministerrat

Fakten
  • Aufbau: Eine Ministerin aus jedem Mitgliedstaat, je nach Themengebiet
  • Aufgabe: Mitbestimmung bei EU-Gesetzgebung und EU-Budget
  • Sitz: Brüssel
  • Präsidentschaft: Halbjährlich rotierende Präsidentschaft, aktuell Deutschland
  • offizielle Website: https://www.consilium.europa.eu/en/council-eu/
Der kurze Vergleich

Stell dir vor, der Ständerat würde nicht direkt vom Volk gewählt sondern bestünde aus je einem Regierungsmitglied aus jedem Kanton. Welches Regierungsmitglied den Kanton vertritt, hängt dabei vom Thema ab, das gerade behandelt wird.

Der ausführlichere Vergleich

Um den EU-Ministerrat anhand der schweizerischen Institutionen zu verstehen, müssen wir zwischen dessen Zusammensetzung und dessen Funktion unterscheiden.

Zusammensetzung

Zusammengesetzt wird der Rat durch die für das vorliegende Thema verantwortlichen Ministerinnen in den nationalen Regierungen. Wird die Landwirtschaft besprochen, kommen alle Landwirtschaftsministerinnen der EU-Mitgliedstaaten im Ministerrat zusammen. Wenn die Verkehrsinfrastruktur auf der Agenda steht, dann treffen sich die Verkehrsministerinnen im Rat. 

Die Zusammensetzung des Ministerrats sieht aus wie jene der Direktor*innen-Konferenzen in der Schweiz. Für Themen der inneren Sicherheit zum Beispiel, trifft sich in der Schweiz die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektor*innen. Auf europäischer Ebene wären das die nationalen Justizministerinnen.

Der Ministerrat ist in seinen unterschiedlichen Zusammensetzungen unterschiedlich wichtig. Um die Arbeit in den wichtigsten Zusammensetzungen zu erleichtern, haben diese sich eine ständige Vorsitzende gegeben. Die vereinigten Finanzminister der Euro-Länder organisieren sich in der sogenannten Eurogroup und haben sich einen ständigen Vorsitzenden gegeben. Seit Juli 2020 ist das Paschal Donohoe. Auch die vereinigten Aussenminister haben einen ständigen Vorsitzenden. Momentan ist das der “Hohe Vertreter” Josep Borrell Fontelles.

Funktion

Der Ministerrat hat einerseits gesetzgebende (legislative) und ausführende (exekutive) Funktionen. 

In seiner gesetzgebenden Funktion ist der Ministerrat mit dem schweizerischen Ständerat vergleichbar. Genau wie der Ständerat vertritt der Ministerrat im Gesetzgebungsprozess die Position der Mitgliedstaaten/Kantone. In der Gesetzgebung arbeitet er mit den Repräsentantinnen der Bürgerinnen im Europaparlament. Im Gegensatz zum Ständerat werden Abstimmungen im Ministerrat nicht mit einfacher Mehrheit entschieden. Meistens benötigen die Entscheidungen eine qualifizierte Mehrheit. Dann werden Entscheidungen erst gefällt, wenn Ministerinnen aus mindestens 15 Mitgliedstaaten mit einer vereinten Gesamtbevölkerung von mindestens 65% der EU-Bevölkerung zustimmen. In Entscheidungen zum mehrjährigen Finanzrahmen, zu Steuer- und Arbeitsmarkt-Fragen, bei der gemeinsamen Sicherheits- und Aussenpolitik oder bei Fragen zum insititutionellen Rahmen ist sogar Einstimmigkeit nötig. 

In seiner ausführenden Funktion ähnelt der Ministerrat eher einem Regierungsmitglied. Wenn der Ministerrat als Gremium der nationalen Aussenministerinnen ein internationales Abkommen unterzeichnet, dann handelt er wie ein kollektiv zusammengesetzter Bundesrat Ignazio Cassis, der schweizerische Aussenminister. Wenn der Ministerrat als Gremium der Finanzministerinnen der Euro-Länder (das ist die Eurogroup) beschliesst, einen Euro-Staat in finanzieller Not mit günstigen Krediten zu stützen, so handelt er wie ein kollektiv zusammengesetzter Finanzminister Ueli Maurer.

Der Europäische Rat

Fakten
Vergleich

Der Europäische Rat ist die Zusammenkunft der nationalen Staatschefinnen. Dabei ist nicht zwingend das formelle Staatsoberhaupt gemeint, sondern die mächtigste Person in der nationalen Exekutive. In Deutschland ist das die Kanzlerin, in Frankreich der Staatspräsident, in Spanien der Ministerpräsident. Sie geben gemeinsam die strategischen Schwerpunkte für die EU vor. Der Europäische Rat kann selbst zwar keine Verordnungen oder Richtlinien erlassen, doch gegen den Willen des Europäischen Rats passiert kaum etwas in der EU. Denn der Europäische Rat hat am meisten politische Autorität. Schliesslich haben die Staatschefinnen im Normalfall ihre Ministerinnen unter Kontrolle. Und ohne die Ministerinnen im Ministerrat kommt in der EU kein Gesetz zustande. 

Die Schweiz hat kein Pendant zum europäischen Rat, denn in der Schweiz gibt es keine klare Konzentration der politischen Autorität. Wenn wir es uns dennoch vorstellen wollen, dann müssen wir uns den Bundesrat wegdenken und stattdessen eine kollektive Präsidentschaft der 26 Vorsitzenden der Kantonsregierungen hindenken. Zudem müssten diese Vorsitzenden in den Kantonsregierungen die restlichen Regierungsmitglieder vollumfänglich hinter sich wissen. Die schweizerischen Kollegialbehörden sind aber nicht so aufgebaut, dass alle Regierungsmitglieder jederzeit hinter der Vorsitzenden stehen. Hilfreicher ist der Vergleich mit dem französischen Präsidialsystem in diesem Artikel.

Die Kommission

Fakten
  • Aufbau: EU-Verwaltung mit 33’000 Angestellten unter der politischen Führung von 27 Kommissarinnen aus allen Mitgliedstaaten
  • Aufgaben: Die Einhaltung der EU-Verträge überwachen, neue Regulierungen anstossen, EU-Programme managen
  • Sitz: Brüssel
  • Präsidentin: Ursula von der Leyen
  • offizielle Website: https://ec.europa.eu/info/index_de
Vergleich

Die europäische Kommission ist eine Mischform zwischen Verwaltung und Regierung. Sie ist die Hüterin der Verträge. Das heisst, sie stellt sicher, dass die EU-Regulierungen von den Mitgliedstaaten und Firmen eingehalten werden. Zudem hat sie als einzige europäische Institution das Initiativrecht, um neue Regulierungen anzustossen. Die Kommissionspräsidentin wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen und vom europäischen Parlament bestätigt. Jede nationale Regierung schlägt ein Kommissionsmitglied aus dem jeweiligen Mitgliedstaat vor. Die Kommissionspräsidentin teilt diese dann einem thematischen Dossier zu. Gemeinsam stehen die Kommissarinnen der EU-Verwaltung vor.

Das ist, wie wenn der schweizerische Bundesrat aus 26 von den Kantonsregierungen nominierten, meist unbekannten Bundesrätinnen bestünde, die je einem Bundesamt vorstünden. Dieser Riesen-Bundesrat und die Bundesverwaltung hätten das alleinige Recht, Regulierungsvorschläge zu machen. Hilfreicher als der schweizerische Vergleich ist der Vergleich mit dem französischen Präsidialsystem in diesem Artikel.