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EU verstehen Schweiz

Fragen an die Hauptstadt

Jeder gute Bericht beginnt mit einer Forschungsfrage. Der Hauptstadtbericht beginnt mit 47.

Mir wurde gesagt, ich solle dieses Projekt ohne vorgefertigte Meinung antreten. Ich könne Brüssel nur dann zielführend untersuchen – so die mahnenden Worte – wenn das Ziel die Beantwortung einer offenen Frage ist und nicht der Beweis einer lieb gewonnenen These. 

Die schlechte Nachricht ist: Mein Kopf brummt regelrecht vor Thesen zu Brüssel und dessen Institutionen. 

Die gute Nachricht ist: Ich habe auch Fragen. 

Viele, plagende, ungeordnete Fragen:

Leserinnen-Hinweis: Was jetzt folgt, ist ein leicht obsessiver Fragenkatalog. Wenn du selbst von Fragen zu Europa geplagt wirst, musst du dir das nicht antun. Du kannst ans Ende des Artikels scrollen, und mir deine Fragen an die Hauptstadt im Kontaktformular mitteilen. Du hilfst mir somit bei der Priorisierung meiner eigenen Fragen.

Wie funktioniert Europa? Und woran messen wir, ob Europa gut oder schlecht funktioniert? An Umfragewerten? Am BIP-Zuwachs? An der Anzahl nicht stattgefundener Kriege?

Weshalb wird die EU ein Friedensprojekt genannt? Wie verhindert sie Krieg? Wieso braucht es dafür 32’000 Beamtinnen in der europäischen Kommission? Ist der Brüsseler Bürokratensprech die Sprache der Völkerverständigung? Pflastern die europäischen Richtlinien den Weg zum Gemeinwohl?

Unterdrückt Europa demokratische Selbstbestimmung? Oder ist es die beste Hoffnung der Demokratie in einer Welt mit einem totalitären China, den USA auf der Kippe zur Autokratie und einem Indien, das dem Faschismus schöne Augen macht? Aber wie kann es sich als Bastion der Demokratie verstehen, wenn es einen Orban in den eigenen Reihen hat? Betreibt Europa schmutzige Realpolitik wie alle anderen Bullys auf dem anarchischen Pausenhof der Weltpolitik? 

Wäre Henry Kissinger stolz auf Europa? Und weiss er mittlerweile, welche Nummer er wählen muss, wenn er mit Europa sprechen will? Ist da jemand in charge? Wenn ja, wer?  Wenn nein, wie soll das funktionieren? Sind da einfach sehr viele Menschen, die aneinander vorbeischwatzen? Nennt man es deshalb ein Friedensprojekt? Heisse Luft statt heisser Läufe? 

Warum lässt ein Friedensprojekt Tausende Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken? Bezahlt Alan Kurdi den Preis für den Frieden der Europäerinnen?

Wieso setzen viele ihre Hoffnung auf Europa, um den Klimawandel in verwaltbarem Rahmen, oder die grossen Technologiefirmen in Schach zu halten? Warum wird Europa als neoliberales Projekt verrufen? Warum ist Europa dennoch die grösste Hoffnungsträgerin für viele Neoliberalismus-Kritikerinnen? Gelingt es Europa, die Kapitalmärkte an den Hörnern zu packen und wieder vor den Pflug des Gemeinwohls zu spannen? Wie versucht Europa diesen Hoffnungen gerecht zu werden? 

Und ich als Schweizer? Darf ich auch Hoffnungen an Europa haben? Habe ich eine Stimme dort? Wenn ja, wie benutze ich sie? Wenn nein, gibt es Schweizerinnen, die eine haben? Wer sind sie? Kennen sie sich? Was machen sie und wofür setzen sie ihre Stimme ein?

Was ist unsere Rolle als Schweiz? Sollten wir in den schmutzigen Maschinenraum dieser realpolitischen Heissluft-Bürokratie-Friedensfabrik in Brüssel hinabsteigen? Sind wir schon dort, ohne es zu merken? Oder ist die Schweiz nur eine weitere hübsche aber bedeutungslose Königsfamilie, die sich europäische Länder so gerne halten? Sind wir die Windsors Europas, die dem europäischen Fussvolk in zeremoniellen Abstimmungen vorspielen, wie eine föderale Demokratie funktionieren würde? Werden wir von unserem royalen Ross hart auf die Schnauze fliegen, wenn wir nicht nachvollziehen, was vorher im Brüsseler Maschinenraum entschieden wurde? Oder haben wir kraft unserer Diplomatinnen viel mehr zu sagen als wir denken?

Die Schweiz als Windsors Europas?

Kann ich diese Fragen unvoreingenommen untersuchen, wenn ich doch Pro-Europäer bin? Werde ich Pro-Europäer bleiben, wenn ich diese Fragen untersuche?

Kann Brüssel mir diese Fragen beantworten? 

Ziemlich sicher nicht alle. Dennoch werde ich Brüssel und seine Einwohner mit ihnen löchern. Was zurückkommt, wird hier protokolliert.

Hast du, liebe Leserin, lieber Leser, auch Fragen? Willst du mir helfen, die Fragen zu ordnen, priorisieren und zu ergänzen? Sende mir hier deine eigene Frage, mit der ich Europa auf die Spur kommen kann.

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