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EU verstehen Europa in der Welt

Wie baut man ein Friedensprojekt nach zwei Weltkriegen?

Die EU rühmt sich gerne, ein Friedensprojekt zu sein. Doch stimmt das? Und was hat das mit Kohle und Stahl zu tun?

“Wunderschön sah es aus, wie Feuerwerk! Nur anhand der Reaktion meiner Eltern merkte ich, dass etwas nicht stimmte,” sagte meine Oma. Wir standen auf dem Dachboden ihres Elternhauses in Mörschwil bei St. Gallen und sie erinnerte sich, wie sie als Sechsjährige durch das Fenster dieses Dachbodens auf die gegenüberliegende Bodensee-Seite schaute, während Friedrichshafen bombardiert wurde.

An das genaue Datum kann sie sich nicht mehr erinnern, doch es könnte der 28. April 1944 gewesen sein. Zwischen 2:00 und 2:50 Uhr morgens entluden die Alliierten 185’000 Brandbomben, 580 Sprengbomben und 170 Luftminen über Friedrichshafen. Der durch Nazi-Deutschland gestartete zweite Weltkrieg wütete da schon fast fünf Jahre und würde noch während eines ganzen Jahres weitertöten. 

Danach: Nichts mehr. Stille. Keine Bomben mehr auf Friedrichshafen, auf Deutschland oder sonstwo auf das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft, bzw. heute der Europäischen Union. Kein Wunder, dass die EU sich rühmt, ein Friedensprojekt zu sein. Aber stimmt das? Dies ist eine der ersten Fragen, die ich mit dem Hauptstadt-Bericht behandeln möchte.

Wir können die Geschichte nach 1945 nicht nochmals ohne EU laufen lassen, um herauszufinden, was ohne sie geschehen wäre. Mit Sicherheit werden wir die Frage deshalb nie beantworten können. 

Intuitiv macht es Sinn, dass politische Kooperation und Verhandlungen dem Frieden zuträglich sind. Doch für politische Kooperation und erfolgreiche Verhandlungen braucht es zuerst gegenseitiges Vertrauen. Und Vertrauen war nach zwei Weltkriegen und einer langen Geschichte militärischer Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich nicht vorhanden.

Wie baut man ein Friedensprojekt ohne Vertrauen?

Im Zeitalter der industriellen Kriegsführung bedeutet industrielle Übermacht militärische Übermacht. Die in Friedrichshafen ansässige Rüstungsindustrie war denn auch der Hauptgrund, weshalb die Stadt zum Ziel alliierter Bomber wurde. 

Frankreich fürchtete nach dem Krieg, dass ein wiederaufgebautes Deutschland seine Rüstungsindustrie anwerfen und dann bald schon wieder deutsche Panzer durch Frankreich rattern lassen würde. Die Erfahrung aus den beiden Weltkriegen zwang Frankreich diese Vermutung auf. Frankreich versuchte also zunächst, die deutsche Industrie klein zu halten. Hinzu kam, dass Frankreich die knappen Ressourcen für den eigenen Wiederaufbau brauchen wollte.

Das Misstrauen auf französischer Seite ging so weit, dass De Gaulle 1946 das Kohle- und Industrie-reiche Ruhrgebiet von Deutschland abtrennen wollte. Dazu kam es nicht, doch wurde Deutschland gezwungen, seine Schwerindustrie einer neu geschaffenen “Internationalen Ruhr-Behörde” zu unterstellen und sie teilweise zu deindustrialisieren. Nur ein nachhaltig schwaches Deutschland garantierte französische Sicherheit. Diese Einstellung half nicht, um auf deutscher Seite das für eine Kooperation und für langfristigen Frieden notwendige Vertrauen zu schaffen. 

Misstrauen und Rüstungsspirale

Wie war es also möglich, dass aus diesem giftigen Misstrauen nicht wie früher Ressentiments geschürt wurden, und sich die Eskalationsspirale nicht wieder langsam zu drehen begann?

Die Verantwortlichen sind wohl der Kalte Krieg und eine gute Idee.

Der Kalte Krieg

Die USA hatten ein Interesse an einem starken Westeuropa an ihrer Seite gegen die Sowjetunion. Sie konnten einem klein gehaltenen Deutschland nicht viel abgewinnen. Als Befreiungsmacht und Wiederaufbauer West-Europas hatten sie ein gewichtiges Wort mitzureden. De Gaulles Ruhr-Abtrennungs-Idee landete somit im Papierkorb für französische Sicherheits-Fantasien und auch die internationale Ruhrbehörde war keine langfristige Lösung. Eine andere Idee musste her.

Eine gute Idee

Vor dem Hintergrund, dass die USA kein permanent geschwächtes Deutschland hinnehmen würden, erarbeitete der französische Unternehmer Jean Monnet gemeinsam mit dem französischen Aussenminister Robert Schuman 1950 eine neue Idee. Schuman verkündete sie der versammelten Presse am 9. Mai 1950 in der sogenannten “Schuman-Erklärung”. 

Europa Fakt: Der 9. Mai ist heute deshalb als Europatag bekannt. 

Schuman erklärte, dass Frankreich und Deutschland ihre Kohle- und Stahl-Produktion einer “Hohen Behörde” in einer für weitere Länder offenen Gemeinschaft unterstellen würden. Die Hohe Behörde soll sicherstellen, dass freier Handel von Kohle- und Stahl-Produkten zu gemeinsamen Produkt-Standards und einheitlichen Wettbewerbsregeln stattfindet. Schuman sagte weiter, dass diese Vorgehensweise Krieg in Europa “materiell unmöglich” machen würde. Das Problem des mangelnden Vertrauens wäre behoben. Deutschland könnte sich industrialisieren und Frankreich müsste nicht um seine Sicherheit bangen.

Der Schuman-Plan stiess auf Kritik. National orientierte Politiker fürchteten um die nationale Souveränität, Gewerkschaften fürchteten um ihren Einfluss in einem liberalisierten Markt und Unternehmensverbände beklagten Bürokratie und Dirigismus, fürchteten aber eher den Wettbewerb. Das klingt auch heute, siebzig Jahre später, noch ganz ähnlich. 

Trotz der kritischen Stimmen unterzeichneten Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten 1951 den Vertrag von Paris und gründeten damit die “Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)”. 

Europa Fakt: Die EU von heute ist institutionell immer noch sehr ähnlich aufgebaut wie damals die EGKS.

Wie sollte die EGKS Krieg verhindern?

Nach Inkrafttreten des EGKS-Vertrages im Jahr 1952 nahm die Hohe Behörde ihre Arbeit auf. Aber wie genau verhinderte sie nun Krieg? Schliesslich hatte sie keine Truppen zur Verfügung, die sie einer Angriffsarmee hätte entgegenstellen können. 

Die Verfasser des Vorschlags erhofften sich, dass der Freihandel zu einer Spezialisierung und gegenseitiger Abhängigkeit führen würde. Die Abschaffung von Handelshemmnissen sicherte allen Mitgliedern den Zugang zu Kohle und Stahl zum gleichen Preis. Dies war für den Wiederaufbau unerlässlich. Zudem dachten die Verfasser, dass die Hohe Behörde die Bildung von mächtigen Kartellen und Grosskonzernen verhindern würde. Diese Konzerne waren als wichtige Unterstützer Hitlers wahrgenommen worden. 

Die Kontrollkompetenz der Hohen Behörde reduzierte das gegenseitige Misstrauen. Wenn in einem Mitgliedstaat plötzlich viel mehr Stahl produziert würde als im Markt ersichtlich ist (weil er zum Beispiel für den Bau von Panzern abgezweigt würde), hätte die Hohe Behörde das bemerkt. Diese Sicherheit bedeutete, dass man nicht aus Vorsicht oder Misstrauen ebenfalls wieder in Rüstung investieren musste. Niemand sah sich genötigt, eine eskalierende Rüstungsspirale in Gang zu setzen.

Funktionierte es?

Der Handel zwischen den Mitgliedstaaten schoss in die Höhe. Kein in Friedrichshafen produziertes Industriegut war seither beteiligt an der Tötung französischer Soldaten. Doch längst nicht alle Ziele des Vertrags von Paris wurden erfüllt. So bildeten sich zum Beispiel wieder grosse Rüstungskonzerne. Auch Preisabsprachen konnte die Hohe Behörde nicht gänzlich verhindern. Die Hohe Behörde war eine mässig erfolgreiche Regulatorin.

Die wichtigste Errungenschaft der EGKS war wohl nicht die Effektivität ihrer einzelnen Regulierungen sondern die stählerne Brücke, die sie über den tiefen Graben des Misstrauens in Europa schlug. Diese Brücke des Vertrauens war stabil genug, um den europäischen Einigungsprozess in Gang zu setzen. Der europäische Einigungsprozess schaffte es dann, den Graben des Misstrauens soweit zuzuschütten, dass die Brücke bald keine tragende Rolle mehr spielen musste.

Die EGKS erlaubte wirtschaftliche Entwicklung ohne Rüstungsspirale. In den Worten der Schuman-Erklärung: “Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind.”

Wenn heute ein Kind nachts von Mörschwil durch das Fenster nach Friedrichshafen schaut, weil sich dort ein lärmiges, feuriges Spektakel abspielt, dann sieht es wahrscheinlich das üppige Feuerwerk einer prosperierenden Stadt. Friedrichshafen wird nicht wieder von den Flammen verzehrt, welche die städtische Industrie zu entfachen mithalf.