Kategorien
EU verstehen Wirtschaft und Finanzen

“Im System kaputt”

Das Vorurteil des verschwenderischen Italiens muss revidiert werden.

 “In ihrem System kaputt,” nannte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz gewisse EU-Mitgliedstaaten am Freitag am Rande des EU-Gipfels in Brüssel. Dort verhandeln die EU-Staatschefinnen gerade ein Rettungspaket für die Corona-gebeutelte europäische Wirtschaft. In Staaten, die in ihrem System kaputt sind, würde das Geld des Rettungspakets verpuffen, sagte Kurz.

Machte er sich Sorgen, dass bei fehlender Rechtsstaatlichkeit das Geld falsch verwendet würde? Meinte er damit Ungarn, weil dort die Medien gleichgeschaltet werden? Oder Polen, weil dort Richterinnen zwangspensioniert werden, um Platz zu machen für regierungstreue Exemplare?

Nein. Kurz meinte Italien. Wegen der Verschuldung. 

Stimmt das? Ist Italien so hoch verschuldet, dass man es “im System kaputt” nennen kann? 

Ein erster Blick auf die Verschuldung Italiens scheint Kurz recht zu geben: Im Dezember 2019 hatte die italienische Regierung Schulden in der Höhe von 134.8% der jährlichen Wirtschaftsleistung. Das ist viel. Die italienische Regierung könnte ein Jahr lang jeden einzelnen, in Italien verdienten Euro beschlagnahmen und könnte die Schulden immer noch nicht zurückzahlen. 

Zum Vergleich: Der EU-Schnitt lag Ende 2019 bei einer Verschuldung von 79.3% der Wirtschaftsleistung, die österreichische Verschuldung bei 70.4% und die schweizerische bei 41%. Dieses Jahr wird die Verschuldung Italiens wahrscheinlich auf über 150% der Wirtschaftsleistung ansteigen. Erstens, weil die Schulden steigen. Zweitens, weil die Wirtschaftsleistung sinkt. 

Aber heisst das nun, dass Italien “im System kaputt” ist? 

Der schweizer Wissenschaftler Alexandre Afonso hat die italienische Finanzpolitik der letzten Jahrzehnte untersucht und beschreibt, wie es zum heutigen Schuldenberg gekommen ist. Für eine detaillierte Herleitung empfiehlt es sich, den ganzen Artikel zu lesen. Hier sind die wichtigsten Erkenntnisse:

  • In den 1970er und 1980er Jahren betrieb die italienische Regierung eine sehr expansive Fiskalpolitik. Die Regierung gab wesentlich mehr aus als sie einnahm. 
  • Finanziert wurde das durch eine expansive Geldpolitik. Das heisst, die italienische Zentralbank kaufte fleissig italienische Staatsanleihen, sie druckte Geld.  Die Finanzierung der Staatsausgaben war garantiert, zum Preis einer hohen Inflation.
  • Dieses Finanzierungssystem fiel auseinander, als die italienische Zentralbank unabhängig wurde und als die europäischen Regierungen Ende der 1970er Jahre begannen, ihre Währungspolitik zu koordinieren. Das Ziel waren konstante Wechselkurse und Preisstabilität. Das bedeutete, dass Italien seine Inflation in den Griff kriegen musste. Die Zentralbank konnte nicht mehr beliebig Staatsanleihen aufkaufen, was die Zinsen und somit die Kosten für die Regierung steigen liess. 
  • Die italienische Regierung stand plötzlich mit grossen Ausgaben da, die sie nicht mehr billig durch die Zentralbank finanzieren konnte. So häufte sie Schulden an, die aufgrund der hohen Zinsen viel teurer waren als zuvor. Seither kämpft die italienische Regierung mit der hohen Zinslast.
  • Seit 1992 wies Italien jedes Jahr (ausser 2006) einen Primärüberschuss aus. Das heisst, die italienische Regierung nimmt mehr ein als sie ausgibt, wenn wir ohne Zinskosten rechnen.

Zum Vergleich: Österreich hatte seit 1992 in acht Jahren einen negativen Primärsaldo. Fast in jedem Jahr blieb der österreichische Primärsaldo unter dem italienischen. Italien war sparsamer als Österreich.

Italienerinnen zahlen heute noch für die finanzpolitischen Fehler, die ihre Regierung vor vierzig Jahren begangen hat. Seit dreissig Jahren sparen sie, verzichten auf öffentliche Investitionen und werden belohnt mit noch höheren Schulden. Denk daran, wenn du beim nächsten Italien-Urlaub über schlecht instand gehaltene Strassen holperst.

Kurz und andere Vertreterinnen der “sparsamen vier” fordern, dass Italien und die anderen Staaten in Bedrängnis sich zu Reformen verpflichten, um den Schuldenberg abzubauen. Nach dreissig Jahren sparen, noch mehr sparen. 

Wie erfolgreich dieses Modell ist, sieht man am Beispiel Griechenlands. Seit 2010 wird Griechenland zu Reformen gezwungen, die Einsparungen bringen sollten. 

Das Resultat: Griechenland ist mit einer Verschuldung von 176.6% der Wirtschaftsleistung das einzige europäische Land, das noch stärker verschuldet ist als Italien. 

Wenn ein Staat viel mehr einnehmen muss, als er ausgibt, muss er entweder die Steuern drastisch erhöhen oder die Ausgaben stark senken. Beide Massnahmen reduzieren das Einkommen und bremsen die Wirtschaft, was wiederum die Steuereinnahmen verringert. Der Anteil der Schulden an der Wirtschaftsleistung kann auf diese Weise sogar noch wachsen.

Früher hätte Italien sich durch eine expansive Geldpolitik mittelfristig von den Schulden befreien können. Heute geht das nicht, weil die Geldpolitik in europäischer Hand ist. 

Solange Steuern, Ausgaben und Schulden nicht stärker europäisch koordiniert und geteilt werden, bleibt dieses Problem bestehen. Insofern ist das System tatsächlich “kaputt” und wird mit kleinen Flickarbeiten am Laufen gehalten.

Die Staatschefinnen am EU-Gipfel verhandeln nun das nächste Flickwerk. Das zu Beginn des Gipfels vorgeschlagene Rettungspaket würde die Ungleichheiten und Widersprüche im System nicht beseitigen. Es wäre aber eine bedeutende Entlastung für die hoch verschuldeten und gleichzeitig stark von Corona betroffenen Länder im Süden Europas. Ein Schritt in Richtung eines funktionierenden Systems.

Kurz will das Rettungspaket verkleinern so weit es geht. Er versucht, das System so kaputt wie möglich zu halten.