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Transatlantischer Schulterschluss – helvetischer Torschluss?

Die EU-Kommission will die Kooperation zwischen der EU und den USA intensivieren. Die Schweiz muss aufpassen, den Anschluss nicht zu verlieren.

Transatlantischer Schulterschluss

Die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten liess viele in der EU aufatmen. Die EU-Kommission will die Chance nutzen und dem transatlantischen Bündnis nach Bidens Wahl einen Schub geben. Noch bevor Biden in das Weisse Haus eingezogen ist, schlägt die Kommission eine “EU-US agenda for global change” vor. 

Gemeinsam gegen China

Das Papier ist offensiv geschrieben und spricht explizit von der Macht und dem Einfluss, den die EU und die USA haben, wenn sie zusammenarbeiten. Das Papier macht auch keinen Hehl daraus, gegen wen sich die Offensivität richtet: die chinesische Regierung. 

Das ist taktisch geschickt. Denn Biden wird aufgrund des voraussichtlich republikanischen Senats Mühe haben, politische Mehrheiten für seine Vorschläge zu finden. Doch die Skepsis gegenüber China ist eines der wenigen Themen, das über Parteigrenzen hinaus Unterstützung findet. Indem die EU-Kommission ihre Anliegen in den Kontext geopolitischer Spannungen stellt, erhöht sie die Chance, dass sie in Washington Gehör finden.

Grünes Geld

Das Papier der Kommission behandelt Kooperationsmöglichkeiten in vier Themen: Gesundheit, Klima, Technologie und die Förderung der Demokratie. In jedem dieser Themen schlägt die Kommission einige Initiativen vor, welche die USA und die EU gemeinsam vorantreiben könnten. Wer den ganzen Inhalt lesen will, kann sich die Agenda hier anschauen.

Für die Schweiz sind einige dieser Initiativen interessant. So will die EU-Kommission zum Beispiel mit den USA ein gemeinsames Regelwerk für eine nachhaltigere Finanzindustrie auf die Beine stellen. Sollte das gelingen, wird der schweizerische Finanzplatz unter Druck kommen, ebenfalls nachzuziehen. Statt wie vor wenigen Jahren in eine Weissgeldstrategie würden die Banken dann vielleicht in eine Grüngeldstrategie gezwungen.

Technologie und Handel

Der wohl relevanteste Vorschlag der EU-Kommission ist, die Tech-Industrie gemeinsam zu regulieren. Die EU-Kommission will gemeinsam mit den USA globale Standards setzen (statt wie bisher oft unilateral) und bilaterale Handelsschranken abbauen. Dazu schlägt sie die Gründung eines Handels- und Technologierats (“Trade and Technology Council” – TTC) vor. Dieser Vorschlag erinnert an das umfassende Handelsabkommen TTIP, das nach langen Verhandlungen und viel öffentlicher Kritik scheiterte. Der TTC ist ein Versuch, die weniger kontroversen Aspekte des TTIP wieder aufzunehmen.

“Regulatorische Konvergenz” ist das Ziel, zum Beispiel im Datenschutz und in der künstlichen Intelligenz. Eine einheitliche Regulierung des Umgangs mit Daten würde den Datenfluss zwischen den USA und der EU erleichtern. Zudem soll ein gemeinsames AI-Abkommen die ethischen Grenzen der künstlichen Intelligenz regeln. 

Schweizer Nachvollzug

Wie erfolgreich die Bemühungen der EU-Kommission und der Biden-Administration sein werden, ist noch unklar. Aber die Standards, welche die EU und die USA in der Technologie setzen, werden auch für die Schweiz gelten (Weshalb das so ist, erkläre ich hier). Wenn Schweizerinnen und Schweizer Bedenken haben zur Zukunft der künstlichen Intelligenz (zum Beispiel im Bereich der Gesichtserkennung), dann ist jetzt der Zeitpunkt, sich einzumischen.

Die Einmischung und Mitsprache wird schwierig für die Schweiz, da sie in den EU-Organen nicht vertreten ist. Dennoch wäre es einen Versuch wert, über die Zukunft der Technologie mitzubestimmen. Falls die Mitsprache nicht möglich ist, sollte die Schweiz sich dafür einsetzen, immerhin am Resultat teilzuhaben. Denn wenn die USA und die EU ihre Handelshemmnisse nur untereinander abbauen, droht der schweizerische Wirtschaftsstandort ins Hintertreffen zu geraten. Diese Benachteiligung wird noch verstärkt, wenn die Schweiz aufgrund des fehlenden Rahmenabkommens keine zusätzlichen Marktzugangsabkommen mit der EU abschliessen kann.

Unvermeidliche Geopolitik

Eine schweizerische Teilnahme am transatlantischen Handels- und Technologie-Abkommen würde für die Schweiz bedeuten, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad auf dessen geopolitische Zielsetzung einlässt. Die geopolitische Zielsetzung ist die Eindämmung Chinas. Diese Zielsetzung ist nicht ganz einfach mit der schweizerischen Neutralität zu vereinbaren. 

Vielleicht ist es der Moment zu realisieren, dass die schweizerische Neutralität nicht mehr mit der heutigen geopolitischen Realität in Einklang zu bringen ist.

Denn Biden und die Transformationsagenda der EU-Kommission stellen die neutrale Demokratie Schweiz vor eine weitere Probe. Sie wollen mit einem “globalen Gipfel für die Demokratie” in Richtung einer gemeinsamen Front der demokratischen Staaten gegen autokratische Staaten hinarbeiten. 

Noch ist es nicht so weit

Es ist heute unmöglich vorauszusehen, ob es zu einem neuen und nachhaltigen transatlantische Frühling kommt. Die Agenda stammt von der EU-Kommission, aber das letzte Wort werden die im Europäischen Rat vereinigten europäischen Staatschefinnen haben. Die Position des Europäischen Rats ist schwierig abzuschätzen, da die verschiedenen Regierungen die geopolitische Lage nicht gleich einschätzen. Zuerst wird die Agenda noch von den im EU-Rat vereinigten Aussenministerinnen behandelt (siehe Update unten). Sie werden die Agenda wahrscheinlich diplomatischer formulieren, um dem chinesischen Regime nicht allzu frontal vor den Kopf zu stossen. 

Dennoch dürfte der Zweck der transatlantischen Agenda derselbe bleiben. Und wenn die Angst vor dem chinesischen Regime die EU und die USA einander in die Arme treibt, wird der Druck auf die Schweiz wachsen, sich für die Seite der (imperfekten) Demokratien zu entscheiden.

Schien es bis vor einigen Jahren wirtschaftlich vorteilhaft, ohne feste Anbindung mit möglichst allen frei zu handeln, könnte in Zeiten geopolitischer Polarisierung das Gegenteil der Fall sein. Der Schweiz droht mit ihrem Bestreben, sich alle Türen offen zu lassen und in keine einzutreten, plötzlich vor verschlossenen Türen zu stehen.

Update: Im Text, den der EU-Rat am Nachmittag des 7. Dezember verabschiedete, wird China nicht erwähnt.