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Die “Gefährder” sitzen in der Regierung

In der EU und in der Schweiz beschneiden Regierungen und Parlamente Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aus Angst vor dem Terrorismus. Es ist Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Gefährder

Terroranschläge sind fürchterlich. Sie sind grausam, sie sind unverzeihlich und sie sind extrem selten. Im Jahr 2016, dem in den vergangenen Jahren schlimmsten Terrorismus-Jahr in Westeuropa, gab es in Westeuropa 238 Todesfälle durch Terrorismus. Das sind weniger als 0.01% aller Todesfälle. Die Chance in jenem Jahr in Westeuropa durch einen Terroranschlag zu sterben lag bei 0.00012%. Wir waren also zu 99.99988% sicher. Und die 100-prozentige Sicherheit wird es nie geben, solange wir in einer freien Gesellschaft leben.

Das bedeutet nicht, dass wir nichts gegen Terrorismus machen müssen. Es bedeutet, dass wir die Verhältnismässigkeit der Massnahmen genau prüfen müssen, und dass ein grosses Potenzial zur Verschlimmbesserung besteht.

Terrorismus-Statistik
Anzahl Tote nach Terroranschlägen von 1970 bis 2017. Quelle: https://ourworldindata.org/terrorism  

Dieses Potenzial zur Verschlimmbesserung und Unverhältnismässigkeit scheinen Regierungen in ganz Europa ausnützen zu wollen. In den folgenden Abschnitten behandle ich Beispiele aus Österreich, der Schweiz und auf Ebene der EU.

Von Österreich…

Das Paradebeispiel für Verschlimmbesserung bietet Österreich. Nach dem Terroranschlag in Wien will Bundeskanzler Kurz den Straftatbestand “politischer Islam” einführen. Er will damit die Gesinnung verbieten, die seiner Meinung nach den Nährboden für Terrorismus bildet. 

Eine offene Gesellschaft, die eine Denkweise statt Handlungen verbietet, schafft sich selbst ab. Die liberale Demokratie unterscheidet sich von Gottesstaaten dahingehend, dass sie keine Denkweise vorgibt. Auch die liberale Demokratie selbst darf hinterfragt und sogar abgelehnt werden, denn sie ist keine Religion. Wer den “politischen Islam” verbietet, kann auch ganz andere Gesinnungen verbieten, die mit der Staatsordnung potenziell in Konflikt stehen.

Zudem ist so ein Gesetz gegen den Islam ein Geschenk für die radikalsten Kräfte im Islam. Kurz macht ihnen das Geschenk, die Mär vom westlichen Kulturkampf gegen den Islam zu bestätigen. Er zwingt gläubige Menschen, zwischen Staatsdoktrin und Glaube zu wählen. Und gläubige Menschen werden per Definition den Glauben wählen.

…über die Schweiz

Die schweizerischen Parlamente haben am 25. September 2020 ein Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus verabschiedet. Dieses Gesetz soll die Polizei ermächtigen, “Gefährderinnen und Gefährder” ohne richterliche Kontrolle mit umfassenden Zwangsmassnahmen zu belegen: Ausreiseverbote, Rayonverbote, Meldepflichten, Kontaktverbote. Die Polizei kann diese Repressionen anordnen, wenn sie “konkrete und aktuelle Anhaltspunkte” hat, dass die Person “eine terroristische Aktivität ausüben wird.” 

Die Person muss zu diesem Zeitpunkt noch nichts getan haben. Sie hat noch keine Vorbereitungshandlungen zu einer terroristischen Aktivität unternommen. Dies wäre ohnehin schon strafbar. Es geht also darum, in die Freiheit von Menschen einzugreifen, von denen eine Gefahr ausgehen könnte. Vielleicht. Wer weiss.

Niemand weiss. Niemand kann es wissen. Aber das Gesetz gaukelt der Bevölkerung das Gegenteil vor. Und wenn dann doch ein Anschlag passiert, wird der Druck auf die Polizei umso grösser, nach “Gefährderinnen” zu suchen und sie mit Zwangsmassnahmen zu schikanieren. 

Wer das Ziel solcher Zwangsmassnahmen wird, hat keine Möglichkeit sich zu wehren. Die Polizei muss nichts beweisen und die eigene Ungefährlichkeit kann man auch nicht belegen. Wohin das führt, zeigt das Beispiel Frankreichs, wo unschuldigen Menschen schon mehrere Jahre Freiheit gestohlen wurden, ohne dass sie sich vor Gericht hätten wehren können. Wie falsch die “Anhaltspunkte” sein können, zeigt die Geschichte von Naveed Baloch, den die Polizei nach dem Terroranschlag in Berlin 2016 als Tatverdächtigen festgenommen hatte, weil er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war.

Das einzige, was dieses Gesetz garantiert, sind staatliche Übergriffe in die persönliche Freiheit. Jene Freiheit, die offene Gesellschaften so gerne zelebrieren und auf die Terroristen mit ihren Anschlägen abzielen. Sie scheinen ihr Ziel zu treffen. 

…zur EU

Auch die digitale Freiheit steht unter Beschuss der Terrorfahnder. Im November 2020 bekräftigten die im EU-Rat vereinten nationalen Justizministerinnen ihre Absicht, sich für Ermittlungszwecke Zugang zu verschlüsselten Messaging-Apps zu verschaffen. 

Apps wie Whatsapp, Signal und Threema benutzen End-to-End-Verschlüsselung. Diese Verschlüsselung schützt Nutzer vor dem Zugriff von Hackerinnen und Regierungen. Die Sicherheitsbehörden beklagen, dass sie in ihren Ermittlungen behindert werden, weil sie die abgefangenen Nachrichten nicht lesen können.

Der EU-Rat will, dass die Messaging-Apps den Ermittlungsbehörden einen Schlüssel zur Verfügung stellen, mit dem sie Nachrichten im Nachhinein entschlüsseln können. Verschlüsselungsexperten warnen aber seit Jahren, dass damit Schwachstellen geschaffen würden, die der Cyberkriminalität Tür und Tor öffnen. Eine detaillierte, technisch versierte Begründung dafür kannst du in diesem Artikel nachlesen. 

Was diesen Vorschlag der nationalen Regierungen auf EU-Ebene mit den Vorschlägen in Österreich und der Schweiz verbindet, ist die Bereitschaft, freiheitliche Grundsätze für eine marginal effektivere Terrorbekämpfung aufzugeben. In diesem Fall: die digitale Privatsphäre der Internet-Nutzerinnen in Europa und (dank des Brüssel Effekts) weltweit. 

Die EU-Kommission schlug bei der Präsentation ihrer Anti-Terror Agenda am 9. Dezember einen weniger verschlüsselungsfeindlichen Ton an. Sie zeigte sich lediglich bereit, nach möglichen Lösungen für das Problem zu suchen. Im EU-Gesetzgebungsprozess hat die EU-Kommission aber kein Veto-Recht. Wenn die im EU-Rat versammelten nationalen Regierungen genügend Druck machen, kann nur das europäische Parlament die Schwächung der Verschlüsselung verhindern.

Paradox

Nach Terroranschlägen zeigen sich Politikerinnen gerne als unverfrorene Verteidigerinnen der liberalen Demokratie. “Ihr macht uns keine Angst”, heisst es jeweils, oder “Wegen euch werden wir sicher nicht an unserem freiheitlichen System rütteln”. Wie kommt es, dass Regierende in ganz Europa dann trotzdem zu repressiven, freiheitsfeindlichen Massnahmen greifen?

Ich weiss es nicht. Vielleicht weil es für Politikerinnen sehr schwierig ist, nichts zu tun. Vor allem bei einem medial so attraktiven (ja, das klingt und ist zynisch) Anlass wie einem Terroranschlag. Vielleicht weil Regierende in solchen Situationen überfordert sind und sich von den Sicherheitsbehörden führen lassen, die sich mehr Befugnisse wünschen. Vielleicht weil es Regierenden erlaubt, sich als starke Männer im politischen Kampf zu zeigen. Vielleicht weil jene, die solche Massnahmen am härtesten treffen, wenig politischen Einfluss haben und somit für Regierende vernachlässigbar sind.

Interessant ist, dass jene politische Kräfte, die sich trotz sehr tiefen Opferzahlen am stärksten für repressive Anti-Terror-Massnahmen einsetzen, meist dieselben sind, die momentan trotz vergleichsweise viel höherer Opferzahlen für möglichst nachlässige Anti-Corona-Massnahmen plädieren.

Was auch immer der Grund für die Repressionslust sein mag: Die Regierungen und Parlamente Europas müssen schleunigst davon abkommen. Sonst werden sie selbst es sein, die als die grössten Gefährder des freien Europas in Erinnerung bleiben. 

PS: In der Schweiz werden momentan Unterschriften gesammelt für ein Referendum gegen das Terrorgesetz. Du kannst es hier unterschreiben.