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Der Brüssel Effekt

Wie die EU eigenhändig globale Standards setzt und was das für die Schweiz heisst.

Der Brüssel Effekt

In ihrem 2020 erschienenen Buch “The Brussels Effect: How the European Union Rules the World” analysiert Anu Bradford, wie die EU durch ihre Marktmacht weltweit Regulierungsstandards setzt. Der Brüssel Effekt betrifft die Schweiz als Handelsnation direkt und er wirft ein neues Licht auf die Diskussion um das Rahmenabkommen.

Dieser Beitrag hat vier Teile. Hier kannst du direkt zum Teil springen, der dich am meisten interessiert:

Was ist der Brüssel Effekt?

Als Brüssel Effekt beschreibt Anu Bradford die Fähigkeit der EU, globale Märkte eigenständig zu regulieren. Der Brüssel Effekt muss dabei nicht gewollt sein. Er ist ein Nebeneffekt, weil EU-Regulierungen sich über Marktmechanismen auf Marktakteure und Regulatorinnen ausserhalb der EU auswirken.

Die EU verfügt über einen sehr grossen Binnenmarkt mit vielen relativ wohlhabenden Konsumentinnen. Der Zweck des Binnenmarkts ist, dass einzelne Mitgliedstaaten sich nicht durch eigene nationale Produktstandards einen unfairen Wettbewerbsvorteil für die nationale Industrie verschaffen können. Deshalb übernimmt die EU die Aufgabe der Regulatorin für Produktstandards im gesamten Binnenmarkt. Unternehmen, die den europäischen Konsummarkt mit ihren Produkten beliefern wollen, müssen sich an die Standards der EU halten. Das gilt für Unternehmen in und ausserhalb der EU.

Hier kommt der Brüssel Effekt ins Spiel. Dabei unterscheidet Bradford zwischen dem de facto Brüssel Effekt und dem de jure Brüssel Effekt.

Der de facto Brüssel Effekt tritt auf, wenn global tätige Unternehmen ihre Produkte global den europäischen Standards anpassen, um die internen Abläufe zu standardisieren und vereinfachen. Das ist oft günstiger als verschiedene Produktionsabläufe zu haben. Aus Eigeninteresse verwenden die global tätigen Firmen also den EU-Standard für ihre gesamte Produktion. De facto verbreitet sich der EU-Standard auf diese Weise global, auch wenn die EU ausserhalb ihres Territoriums keine gesetzgeberische Autorität hat.

Der de jure Brüssel Effekt tritt auf, wenn global tätige Firmen bei ihren Regierungen zuhause lobbyieren, die nationalen Bestimmungen dem europäische Niveau anzupassen. Dies tun sie, damit sie in ihrem Heimmarkt nicht benachteiligt sind gegenüber Unternehmen, die nur für den Heimmarkt produzieren. Es kann auch vorkommen, dass die EU den de jure Brüssel Effekt durch politische und wirtschaftliche Verträge mit Drittstaaten auslöst, oder dass nationale Regulatorinnen die Regulierung der EU übernehmen, weil sie diese als sinnvolles Vorbild erachten. Die Schweiz ist als vertraglich eng angebundenes Land stark mit dem de jure Brüssel Effekt konfrontiert. Mehr zur Schweiz im letzten Teil des Beitrags.

Unter welchen Bedingungen tritt der Brüssel Effekt auf?

Nicht jede EU-Regulierung setzt sich global durch. Was entscheidet darüber, ob sich der Brüssel Effekt einstellt? Bradford identifiziert folgende Bedingungen für den Brüssel Effekt:

  • Die Grösse des Markts ist essenziell. Globale Unternehmen werden ihre Produktionsprozesse nur dann anpassen, wenn es sich lohnt. Wenn der EU-Binnenmarkt an Bedeutung verliert, tritt auch der Brüssel-Effekt seltener auf. 
  • Der Brüssel Effekt tritt nur auf, wenn die Regulierung ein inelastisches Ziel trifft, das heisst ein Ziel, das sich den Regeln nicht einfach entziehen kann. Im europäischen Kontext ist damit der Konsummarkt gemeint. In der EU gibt es mehr als 400 Millionen Konsumentinnen. Jedes Unternehmen, das diesen 400 Millionen Menschen ihr Produkt anbieten will, muss sich an die Regeln halten. Man kann die 400 Millionen Menschen schlecht aus der EU transportieren, um ihnen ausserhalb der EU-Regeln etwas zu verkaufen. Sie sind inelastisch. Anders sieht es beim Kapitalmarkt aus. Weil Kapital viel mobiler ist als Konsumentinnen, können Regulierungen in diesem Bereich einfacher umgangen werden.
  • Der Brüssel Effekt tritt nur auf, wenn eine Teilung, bzw. Differenzierung der Produktion nicht möglich oder nicht lohnenswert ist. Wenn es sich rentiert, die Produktion für den europäischen und für den restlichen Markt zu trennen, wird der Brüssel Effekt nicht auftreten. Für eine Website ist es zum Beispiel technisch kaum möglich, mit Sicherheit zu bestimmen, ob eine Nutzerin aus der EU darauf zugreift oder nicht. Deshalb setzen Webseiten die europäische Datenschutzverordnung vorsichtshalber weltweit für alle ihre Nutzerinnen um. Ein anderes Beispiel ist die Chemie-Industrie. Sie hat keine technischen Probleme, die Produktion zu diversifizieren, aber es lohnt sich nicht. Die Chemie-Industrie hat hohe Fixkosten und ist daher auf hohe Skaleneffekte angewiesen, um Rendite zu erwirtschaften. Standardisierung erlaubt mehr Massenproduktion und höhere Skaleneffekte. Deshalb verwendet die Chemie-Industrie mehrheitlich die EU-Chemikalien-Regulierung (REACH).
  • Der Brüssel-Effekt tritt nur auf, wenn die EU strikter reguliert als andere attraktive Märkte und deren Regulierungen nicht widerspricht. Nach Standardisierung strebende Unternehmen versuchen den striktesten Standard für ihre gesamte Produktion zu verwenden. Dies kann der EU-Standard sein, muss aber nicht. Ein Washington Effekt wäre ebenfalls möglich. Die EU reguliert aber oft strikter als die USA, weil das Rechtssystem der EU stärker auf die Verhinderung von Schäden ausgerichtet ist. Jenes der USA konzentriert sich auf die Wiedergutmachung, nachdem ein Schaden aufgetreten ist. In den USA sollen potenzielle Schadenersatzklagen in Millionenhöhe Unternehmen dazu bringen, vorsichtig zu wirtschaften. Die EU versucht die Schäden vorgängig durch Regulierung zu verhindern. 

Der letzte Punkt zeigt, dass der Mechanismus des Brüssel-Effekts nicht zwingend auf Brüsseler Regulierungen beschränkt ist. Sobald ein anderer Markt genug attraktiv ist und strikter reguliert als die EU, kann dieser seinen eigenen Effekt auslösen, also zum Beispiel einen Peking- oder New Delhi-Effekt.

Beispiele für den Brüssel Effekt

Zwei Beispiele für den Brüssel Effekt habe ich schon im vorherigen Absatz erwähnt: die Datenschutzverordnung und die Chemikalien-Regulierung. Weitere Beispiele sind das Wettbewerbsrecht und der Umweltschutz. 

Wettbewerbsrecht

Die EU-Kommission kann Unternehmensübernahmen verbieten, wenn diese im Binnenmarkt zu einer Machtkonzentration führen würden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Hauptsitze der beiden Unternehmen in der EU befinden oder nicht. Im hypothetischen Fall, dass Facebook TikTok kaufen wollte, könnte die EU-Kommission das verbieten, obwohl weder Facebook noch TikTok ihren Hauptsitz in der EU haben. Die beiden Unternehmen stünden dann vor der Entscheidung, ob sie die Übernahme oder ihr EU-Geschäft aufgeben wollen. Ein aktueller Fall betrifft Googles Übernahmeversuch von Fitbit, einer Herstellerin von tragbaren Fitness-Trackern, beides US-Firmen. Die Entscheidung dazu wird im Januar 2021 erwartet. Ein Fall mit schweizerischer Beteiligung stammt aus dem Jahr 2017. ChemChina übernahm die schweizerische Syngenta. Keines der beiden Unternehmen hat seinen Hauptsitz in der EU. Dennoch mussten sie auf die Freigabe durch die EU-Kommission warten. Diese Freigabe kam dann mit der Bedingung, dass einige in der EU tätige Unternehmenssparten verkauft würden. Übrigens musste auch die US-Wettbewerbsbehörde ihren Segen geben. Aber im Wettbewerbsrecht ist die EU tendenziell strikter. Deshalb spricht man auch im Wettbewerbsrecht eher vom Brüssel Effekt als vom Washington Effekt.

Umweltschutz

Ein Beispiel für den Brüssel Effekt im Umweltschutz ist laut Bradford die Richtlinie zu gefährlichen Stoffen in Elektro-Geräten (englisch RoHS abgekürzt). Ziel dieser Richtlinie war es, die Verwendung von umweltschädlichen Stoffen in Elektronik-Geräten einzuschränken, damit diese nicht die Umwelt vergiften, wenn sie entsorgt werden. Weil Elektronik-Hersteller einen Vorteil haben, wenn sie ihre Massenproduktion standardisieren können, hat sich der EU-Standard global durchgesetzt.

Der Brüssel Effekt und die Schweiz

Als wichtige Handelspartnerin ist auch die Schweiz vom Brüssel Effekt betroffen. Zum Beispiel wenden schweizerische Firmen für ihre Web-Services die Datenschutzverordnung der EU (GDPR) an. Das Syngenta-Beispiel zeigt, dass schweizerische Grossfirmen wettbewerbsrechtlich de facto von EU-Beschlüssen betroffen sind. 

Weil die Schweiz wirtschaftlich so stark im EU Binnenmarkt integriert ist, spielt der de jure Brüssel Effekt Im Vergleich zu anderen Handelspartnerinnen eine viel wichtigere Rolle. Um den Marktzugang für schweizerische Unternehmen zu erleichtern, übernimmt die Schweiz viele der Marktregulierungen explizit in ihre Rechtsordnung. Das macht sie schon seit langem. Das viel diskutierte Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU würde die Übernahme von EU-Standards vereinfachen und würde den de jure Brüssel Effekt auf die Schweiz noch verstärken.

Anu Bradfords Buch zeigt auf, dass grosse Märkte mit Regulierungsmacht Einfluss haben, ob man das will oder nicht. Kleine Akteure, die Zugang zu diesen Märkten wollen, müssen sich anpassen. Für die Schweiz ist die EU eine dermassen wichtige Handelspartnerin, dass es keine gleichwertige Alternative gibt. Aber selbst wenn Alternativen wie der chinesische Markt gleich wertvoll wären für die Schweiz: Auch der chinesische Markt wird reguliert. Und auch diese Regulierungen müssen befolgt werden. Ob der Peking-Effekt wünschenswerter wäre als der Brüssel-Effekt, kann jede für sich selbst beantworten.

Wer mehr wissen will über den Brüssel Effekt, der sei empfohlen, das Buch von Anu Bradford zu lesen.

Wer mehr wissen will über den Brüssel Effekt auf die Schweiz, dem sei das Abonnement des Hauptstadt-Berichts empfohlen.