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Die grünen Bullen vom Schlachthof Anderlecht

Ist vertikale Landwirtschaft die Lösung für eine wachsende Bevölkerung? Ein Betriebsbesuch in Brüssel.

Sieben Minuten und achtundzwanzig Sekunden dauert die erste Antwort von Alexandre Van Deun. Wir hatten eben erst den Zoom-Call gestartet und ich wollte als Einstiegsfrage von ihm wissen, weshalb er und sein Geschäftspartner “Urban Harvest” gegründet hatten. In den darauffolgenden siebeneinhalb Minuten rattert er mir die noch junge Gründungsgeschichte runter und legt den Business Plan für die kommende Expansion vor. Er spricht von kommerzieller Validierung, Abnahmeverträgen, Profitmargen und Franchise-Modellen. Die Worte “Nachhaltigkeit” oder “Biodiversität” haben keinen Platz in seinem Pitch.

Dabei hatte ich ihn genau deswegen kontaktiert. “Urban Harvest” ist eine Firma, die “Vertical Farming” betreibt. Vertikale Landwirtschaft beschreibt eine Anbaumethode, bei der die Pflanzen übereinander gestapelt werden und mit künstlichem Licht herangezogen werden. Die Pflanzen wachsen in einer kontrollierten Umgebung. Produzentinnen kontrollieren die Bewässerung, Temperatur, Nährstoffe und Lichtverhältnisse und benötigen keine Pestizide, weil die Pflanzen von der Umgebung abgeschottet sind. 

Die stolzen "Urban Harvest" Gründer Olivier Paulus (links) und Alexandre Van Deun (rechts).
Die stolzen “Urban Harvest” Gründer Olivier Paulus (links) und Alexandre Van Deun (rechts). Quelle: Urban Harvest

Vertical Farming scheint Platz zu sparen und schont – abhängig davon, woher die Elektrizität kommt – Ressourcen. Wenn wir für die Ernährung einer steigenden Weltbevölkerung nicht immer mehr Flächen der Landwirtschaft opfern wollen, braucht es Wege, die Nahrung platzsparender anzubauen. 

Ende September habe ich in diesem Meinungsbeitrag argumentiert, dass Bevölkerungswachstum in der Schweiz zu begrüssen wäre. Darauf sind einige kritische Stimmen bei mir eingegangen, die sich unter anderem über die Verbauung der Schweiz und den Biodiversitätsverlust beklagten. Und sie haben Recht: Ohne gute Lösungen wird Bevölkerungswachstum zu Biodiversitätsverlust führen. Deshalb mache ich mich auf die Suche nach möglichen Lösungen. Eine davon ist vielleicht Vertical Farming.

Aber eben: Weltrettungsüberlegungen scheinen beim Co-Gründer von “Urban Harvest” eher zweitrangig zu sein. Die Gründungsgeschichte beginnt denn auch mit dem gegenseitigen Versprechen der beiden Co-Gründer, als sie noch gemeinsam studierten: Wenn einer der beiden die 1-Million-Dollar-Idee hätte, würde er den anderen anrufen, damit sie es gemeinsam anpacken könnten.

Nach dem Zoom-Call lädt Van Deun mich ein, seine “Farm” zu besuchen. Sie befindet sich auf dem riesigen Areal eines Schlachthofs im Brüsseler Stadtteil Anderlecht. Imposante Bullen-Statuen zieren den Eingang des Areals. Mein HSG-trainiertes Gehirn assoziiert die Statuen automatisch mit dem Wall Street Bullen, der für wachsende Märkte steht.

Willkommen im Schlachthof Anderlecht

Das Areal sieht auf den ersten Blick jedoch nicht nach einem ökonomischen Boom aus. Im Zentrum steht ein riesiger, aber (aufgrund der Covid19-Massnahmen) verlassener Marktplatz unter dem Dach des ehemaligen Schlachthofs. 

Auf der Suche nach den Räumlichkeiten von “Urban Harvest” irre ich auf dem Gelände umher. Bevor ich “Urban Harvest” finde, komme ich an zwei weiteren Urban Farming Unternehmen vorbei. Die Firma Bigh hat ein Gewächshaus auf das Dach eines der angrenzenden Gebäude gebaut. Dort drinnen produziert es Tomaten und Kräuter. Gleichzeitig züchtet es Speisefische, deren Ausscheidungen als Dünger für die Pflanzen genutzt werden. Das andere Unternehmen heisst “Le Champignon de Bruxelles” und zieht in den Kellern des ehemaligen Schlachthofs Pilze heran. Hier spriessen die Keimlinge einer städtischen Landwirtschaft. Es ist davon auszugehen, dass die Bullen am Eingang etwas mehr Freude am Boom dieser Industrie haben als an jenem der vorher hier ansässigen Industrie.

Unter dem vergilbten “Vleesmarkt”-Schriftzug finde ich endlich den Eingang zur Farm. Alexandre Van Deun empfängt mich im kleinen Eingangsbereich, der am Vormittag jeweils als Ernte- und Verpackungsraum dient. Daneben sehe ich in ein kleines Zimmer, das als Sitzungsraum und Büro dient. Am Boden kauert ein junger Mann und bastelt an einem Fahrrad herum. Es ist der Co-Gründer Olivier Paulus, der den ganzen technologischen Aufbau der Farm zu verantworten hat. Dem junge-Männer-in-einer-Garage-Startup-Groove ist nicht zu entgehen. 

Urban Harvest
Versteckt sich im ehemaligen Fleischmarkt eine Vorreiterin der grünen Revolution?

Die Farm ist denn auch nicht viel grösser als eine Garage. In etwa 50 Schritten führt Van Deun mich durch die ganze Anlage. In Wassertanks am Rand der Anlage wird Regenwasser gesammelt. Dieses wird gefiltert und von Bakterien befreit. Dann fügt eine weitere selbstgebaute Maschine dem Wasser die notwendige Menge an Nährstoffen hinzu, worauf das Wasser zu den Pflanzen gepumpt wird. 

Die Pflanzen befinden sich in einem luftdicht verschlossenen Bereich. Wir betreten ihn durch eine Tür, die mir das Gefühl gibt, dass sie etwas sehr Delikates vor äusseren Einflüssen schützt. In den hohen Eisengestellen befinden sich mehrere Lagen Kräuter in allen möglichen Wachstumsphasen. Über ihnen hängen LED-Röhren als Sonnen-Ersatz.

Kräuter wachsen ihrer LED-Sonne entgegen.

“Das ist eine kontrollierte Umgebung”, erklärt Van Deun stolz. “Wir messen und steuern alles: Luftfeuchtigkeit, Temperatur, CO2-Gehalt, Lichtintensität, Windgeschwindigkeit.” Das ist sein Vorteil gegenüber der konventionellen Landwirtschaft. Er kann seinen Pflanzen jeden Tag und in jeder Saison die besten Verhältnisse bieten, während seine Konkurrenz den Launen der Natur ausgesetzt ist.

Weshalb hat sich die vertikale Landwirtschaft angesichts dieser Vorteile noch nicht viel breiter durchgesetzt?

“Produktionskosten”, antwortet Van Deun. Die Elektrizitätskosten seien vielerorts zu hoch oder die klimatischen Bedingungen zu gut, als dass sich der vertikale Anbau lohnen würde. Zudem seien in den Produktionskosten der konventionellen Landwirtschaft die Kosten für den Planeten nicht einberechnet – zum Beispiel die Kosten für die verlorene Biodiversität, wenn man auf einer Fläche Natur eine einzige Pflanzensorte pflanzt. Auch für die Verschmutzung durch Pestizide muss die konventionelle Landwirtschaft normalerweise nicht aufkommen. 

Ein weiterer Grund besteht darin, dass die vertikale Landwirtschaft in Europa das Bio-Siegel nicht verwenden darf, obwohl sie ganz ohne Pestizide und Herbizide auskommt. Um das Bio-Siegel zu erhalten und die damit zusammenhängende höhere Kaufbereitschaft der Kunden abzuschöpfen, muss die Pflanze im Boden wachsen. Diese EU-Regelung riecht nach einer guten Mischung aus gewiefter Lobby-Strategie und Bio-Esoterik. Dazu vielleicht ein anderes Mal mehr.

Die Kostennachteile sind der Grund, weshalb ich in den Pflanzenregalen von “Urban Harvest” nur Kräuter sehe: Basilikum, Petersilie, Koriander, Thai-Basilikum. Sie wachsen schnell und benötigen wenig Platz. Innerhalb von zwei Wochen sind sie bereit zur Ernte. Je schneller die Pflanze geerntet werden kann, desto weniger Elektrizität benötigt die Farm. Und die Elektrizitätskosten sind der wichtigste Faktor in der Rechnung von “Urban Harvest”.

Vertical Farming Kräuter kurz vor der Ernte

Apropos Kosten: “Urban Harvest” sei profitabel, sagt Van Deun. Und er plant die Expansion. In Kürze soll ein neuer Standort mit 20-facher Produktionskapazität in Brüssel in Betrieb genommen werden. Zudem überlegen er und sein Geschäftspartner, ein Franchise-Modell einzuführen. Um die Produktion so lokal wie möglich zu halten, sollen Produzentinnen in verschiedenen Städten und Vierteln sich eigene kleine Produktionsanlagen mit Brüsseler Knowhow einrichten können.

Die vertikale Landwirtschaft ist auch ausserhalb des Anderlechter Schlachthofs auf Expansionskurs. Weltweit fliesst Geld in die junge Branche. Das Berliner Unternehmen “infarm” hat schon mehrere hundert Millionen Dollar an Investitionsgeldern angezogen. Infarm stellt ihre vertikalen Mini-Farmen direkt in Supermärkte. In den USA setzen vertikale Farmen auf grosse automatisierte Produktionsanlagen oder auf umgebaute Schiffscontainer, die als vertikale Farm funktionieren.

Vertical Farming scheint zu boomen, aber ist es wirklich nachhaltiger? In Sachen Pestizid-Verbrauch scheint die Sache klar. Ebenso beim Wasserverbrauch: Vertical Farming braucht bis zu 95% weniger Wasser als konventionelle Landwirtschaft. Die CO2-Bilanz sieht für die Senkrecht-Pflanzer weniger rosig aus. Sie hängt ganz vom Energiemix ab, den man für den Betrieb der Farm benötigt. 

Van Deun sagt dazu, dass wir ohnehin auf 100% erneuerbare Energien umsteigen müssen. Er geht davon aus, dass Energie mit der Zeit durch technologischen Fortschritt gleichzeitig erschwinglicher und nachhaltiger wird. Diese Annahme kommt seinem Geschäft sehr gelegen. Und es gibt Trends, die zumindest in diese Richtung zeigen. Zum Beispiel fallen die Produktionskosten von Solarpanels seit Jahren stark. Offshore Windkraft wird ebenfalls kompetitiver. Zudem wird die LED-Technologie effizienter. Aber selbst wenn die CO2-Bilanz der vertikalen Landwirtschaft sich stark verbessern sollte, ist sie kein Allheilmittel. Der Klima-schädlichste Teil der Landwirtschaft ist nicht die Kräuter- oder Gemüseproduktion sondern die Fleisch- und Milchwirtschaft.

Die Frage des Platzverbrauchs scheint auf den ersten Blick vorteilhaft für die vertikale Landwirtschaft auszufallen. Schliesslich kann eine vertikale Farm zehn Felder übereinander stapeln. Aber 10 Felder brauchen auch Licht für mehrere Felder, ob sie nun übereinander gestapelt sind oder nicht. Sie brauchen nicht zwingend so viel Licht wie 10 Felder, da die Pflanzen bei Urban Farming dichter aneinander wachsen und gezielter beleuchtet werden können. Trotzdem: Für die Produktion dieser Elektrizität braucht es Platz – vor allem bei erneuerbaren Energien. Wenn die ganze Energie zum Beispiel aus Solarpanels gewonnen wird, dann brauchen diese Solarpanels mehr Platz als das zu beleuchtende Feld. Liegen diese Solarpanels auf Hausdächern, ist das kein Problem. An anderen Orten könnten sie durch ihren Platzverbrauch die Biodiversitätsgewinne der vertikalen Landwirtschaft wieder zunichte machen. Eine genauere Gegenüberstellung der ökologischen Vor- und Nachteile von Vertical Farming findest du hier.

Wie die Nachhaltigkeitsrechnung von Vertical Farming genau ausfällt, ist für Van Deun zweitrangig. Seine Aufgabe ist es, ein Unternehmen profitabel zu führen. Es ist die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass umweltfreundliche Geschäftsmodelle profitabler sind als umweltschädliche. Landverbrauch, Pestizid-Belastung und Treibhausgas-Emissionen müssen etwas kosten. Nur wenn die Politik diese Aufgabe wahrnimmt, kann der Markt zum Umweltschutz beitragen. Erst dann werden die Bullen der Wall Street ihre Finanzkraft und die jungen Unternehmerinnen auf der Suche nach der Millionen-Idee ihre Schaffenskraft in den Dienst des Umweltschutzes stellen. Aus Eigennutz statt Weltrettungsdrang.

Bulle vom Schlachthof Anderlecht
Die Wall Street Bullen können in Richtung Klimaschutz rennen. Aber nur, wenn die Politik dieses Ziel klar vorgibt.

Leider bewegt die Politik sich nur sehr langsam in diese Richtung. Kurz vor meinem Besuch bei “Urban Harvest” einigte sich der EU-Rat auf die künftige Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Die nationalen Agrarministerinnen beschlossen leichte Anpassungen für eine nachhaltigere Landwirtschaft. Aber gleichzeitig wurden auch wieder mehrere Milliarden Euro Subventionen für intensive, konventionelle Landwirtschaft gesprochen. Solange die zukunftsuntaugliche konventionelle Landwirtschaft noch derart stark öffentlich gefördert wird, bin ich froh um jeden Van Deun, der zeigt, dass es Alternativen dazu gibt.

Ich verabschiede mich von Van Deun und gehe zum Ausgang des Schlachthofs. Dort triggern die Bullen-Statuen wieder den HSG-ler in mir: Vielleicht wäre Vertical Farming auch in der Schweiz eine 1-Million-Franken-Idee… Ich muss dringend die schweizerischen Elektrizitätspreise studieren.