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Migration und Rechtsstaat Schweiz

Auf zur 15 Millionen Schweiz!

Ein Kommentar zum Abstimmungssonntag

Auf in die 15 Millionen Schweiz

Die schweizerische Stimmbevölkerung hat die Kündigungsinitiative mit grosser Mehrheit bachab geschickt. Die SVP ist gescheitert. In ihrer Ja-Kampagne konzentrierte sie sich auf die angeblich bevorstehende Überbevölkerung und schürte Angst vor der 10-Millionen-Schweiz. Den Höhepunkt dieser Ängstlichkeit im Kampagnen-Gewand markierte das SVP-Video vom bemitleidenswerten Mädchen, das sich beklagte, im Tram nicht mehr sitzen zu können. 

Genug mit diesem vergangenheitsverklärenden Waschlappen-Patriotismus, der seiner Bevölkerung nicht einmal mehr zutraut, eine Tramfahrt ohne Sitzplatz zu überstehen. Wir sollten uns freuen auf die 10-Millionen-Schweiz. Aber die werden wir hoffentlich ohnehin bald erreichen. Wir sollten die Ziele höher stecken: Auf in die 15 Millionen Schweiz!

Mehr ist mehr

Die Schweiz ist ein mehrheitlich gut funktionierendes Land mit einer meist brummenden Wirtschaft und einer vergleichsweise glücklichen Bevölkerung. Wenn mehr Menschen darin mitmachen und teilhaben, umso besser. Der verhältnismässige Anstieg von den aktuellen 8.6 Millionen Menschen zu den angestrebten 15 Millionen ist vergleichbar mit dem Anstieg vom Saldo im Jahr 1955 bis heute. Das Leben in der Schweiz hat sich aufgrund des Bevölkerungsanstiegs bisher nicht verschlechtert. Es ist also grundsätzlich nicht davon auszugehen, dass sich das Leben während des nächsten Bevölkerungssprungs verschlechtern sollte. Der Fakt, dass mehr Leute in der Schweiz leben wollen, wäre ein Indiz dafür, dass etwas richtig läuft. Zudem ist eine wachsende Bevölkerung dynamischer, jünger, empfänglicher für Neues – eine gute Voraussetzung in einer Welt voller Neuem.

Mache ich es mir zu einfach? Vielleicht – aber nicht so einfach wie die rot-weiss bemalte Weinerlichkeit von rechts, die sich nach einer Vergangenheit zurücksehnt, die es nie gab. Und die Vergangenheit, die es gab, war in fast allen Belangen schlechter als die Gegenwart.

Angenommen, dass wir nicht nochmal 65 Jahre auf das Bevölkerungswachstum warten, sondern das Ziel aktiv anstreben wollen: Wie würde die Schweiz den Bevölkerungssprung schaffen? Erstens durch Migration und zweitens durch Familienpolitik.

Migration

Migration ist toll. Sie bietet bessere Lebenschancen für Migrantinnen und sie offeriert der Schweiz einen Wirtschaftsboost, für den sie vorgängig keine Bildungsausgaben leisten musste. Zudem bringen neue Menschen neue Ideen, Verbindungen und Fähigkeiten, von der Gesellschaft und Wirtschaft profitieren.

Migration erreichen wir einerseits durch die Beibehaltung der aktuellen Personenfreizügigkeit mit der EU. Wir sollten den Arbeitsmarkt aber auch für Migrantinnen von ausserhalb der EU öffnen. Wer einen gültigen, permanenten Arbeitsvertrag bei einer schweizerischen Firma vorweisen kann, soll in der Schweiz leben und arbeiten können, solange der Arbeitsvertrag nicht zu Dumping-Bedingungen abgeschlossen wurde. 

Zudem sollten wir, statt uns auf der humanitären Tradition auszuruhen, eine humanitäre Ambition entwickeln und jedes Jahr eine Mindestzahl an Schutzsuchenden aufnehmen, ohne dass sie sich auf einen lebensgefährlichen und Schlepper-bereichernden Weg begeben müssen. Das verhindert unnötiges Leid und Trauma, was wiederum die Arbeitsmarktintegration erleichtert. Durch die Garantie einer Mindestanzahl könnten die Strukturen zur Aufnahme und Arbeitsmarktintegration Schutzsuchender verstetigt und weiter professionalisiert werden. Die Strukturen wären bereit, wenn durch einen Notstand plötzlich mehr Kapazität benötigt würde.

Familienfreundlich weil gleichberechtigt

So viel zur Migration – aber was soll dieses angestrebte Bevölkerungswachstum durch Familienpolitik? Das machen doch nur Regierungen mit einem völkischen Gesellschaftsbild, in dem Frauen als Gebär- und Stillmaschinen gezeichnet sind. Der Staat hat kein Lebensmodell vorzugeben und schon gar nicht Frauen in eine Rolle zu zwängen. Aber in der Schweiz haben viele Menschen weniger Kinder als sie gerne hätten. Weil sie es sich nicht leisten können oder weil es nicht mit Ausbildung und Karriere vereinbar ist. Eine Familienpolitik zu entwickeln, die es Menschen ermöglicht, so viele Kinder zu haben, wie sie gerne hätten, würde die Geburtenrate ganz ohne obrigkeitliche Fortpflanzungsermutigung erhöhen. Wie genau das auszugestalten ist, wissen andere besser als ich. Aber es geht sicher kein Weg vorbei an einer stärkeren Gleichstellung von Mann und Frau in der unbezahlten Familienarbeit. Die Einführung des Vaterschaftsurlaubs ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Viel mehr ist möglich.

Einwände

In der Abstimmungskampagne für die Kündigungsinitiative konzentrierte sich die SVP auf alle Probleme, die sie mit mehr Menschen in Verbindung bringen konnte. Es scheint aber nicht so, als würde sie diese Probleme tatsächlich lösen wollen. Stattdessen benutzte sie die Probleme wie ein MarioKart-Spieler Bananenschalen. Die politische Gegnerin soll auf ihnen ausrutschen. Dabei wären die Herausforderungen erstaunlich lösbar, wenn man sie denn lösen wollte.

Machst du dir Sorgen um einen höheren CO2-Abdruck, wenn mehr Menschen in die Schweiz kommen? Lass uns die ETH- und EPFL-Budgets für grüne Technologie-Forschung verdoppeln, die Schuldenbremse investitionsfreundlich umbauen, mit Negativzins-Krediten einen Innovationsfonds äufnen, schweizer Banken und Versicherungen zu Mindestinvestitionen in grüne Technologien zwingen, mehr grüne Infrastruktur bauen.

Machst du dir Sorgen um höhere Mieten, wenn mehr Leute kommen? Lass uns mehr bauen, in die Höhe bauen, 3-Stock-Bauzonen zu 6-Stock-Bauzonen machen, Stadtbildkommissionen mit mutigen Zeichnerinnen statt Museumskuratoren bestücken.

Machst du dir Sorgen um Kulturland und Biodiversität? Lass uns in die Höhe bauen, 6-Stock-Bauzonen zu 12-Stock-Bauzonen machen, umweltfreundlicher landwirtschaften.

Machst du dir Sorgen um verstopfte Strassen? Lass uns öffentliche Verkehrsmittel ausbauen, den motorisierten Privatverkehr für seine tatsächlichen Kosten aufkommen lassen, Städte für Langsamverkehr umbauen.

Klar, das ist alles unvollständig und aus der Brille des liberalen Städters geschrieben. Es ist dennoch auffällig, wieviele Lösungen es für die grossen Probleme gibt, vor denen sich die fragilen Überbevölkerten angeblich fürchten. Die SVP scheint sich nicht für diese Lösungen zu interessieren. Aber vielleicht hat sie ihre politischen Gegnerinnen auf Ideen gebracht, was man ausser der Herkunft der Nachbarin sonst noch alles im Land ändern könnte. Die SVP droht in der nächsten Runde auf ihrer eigenen Bananenschale auszurutschen.

Ein Patriotismus-Modell, das die Bevölkerung wie ein kleines Kind behandelt, das vor jeder Veränderung überfordert ist, wird das Land an die Wand fahren. Denn die Welt verändert sich nunmal. Wir brauchen einen anderen Patriotismus, ambitioniert statt ängstlich, zukunftsgerichtet statt vergangenheitsverliebt. Ich schlage vor, wir setzen uns ein Ziel, das uns zwingt, uns den Herausforderungen zu stellen: Die 15 Millionen Schweiz.

Disclaimer: Die Idee der 15 Millionen Schweiz habe ich abgekupfert vom US-Journalisten Matthew Yglesias, der in einem neuen Buch für die 1-Milliarde-USA plädiert.

Eine Antwort auf „Auf zur 15 Millionen Schweiz!“

Sehr sympathisch, dass Du Dich durch die Anerkennung Deiner einseitigen urbanen, liberalen Optik selbst zu relativieren weisst. Ich bin einverstanden, dass für viele der von der SVP aufgebrachten Probleme Lösungen vorhanden sind und dass wohl für alle anderen im Verlaufe irgendwelche Lösungen gebastelt werden können. Nicht ganz vergessen sollte man meiner Meinung nach, dass die erfolgreiche Umsetzung aller dieser Strategien von einer funktionierenden Politik und Zivilgesellschaft abhängt. Dazu braucht es neben kluger staatlicher Lenkung die zivilgesellschaftliche Potenzierung durch engagiertes Beitragen jeden Bürgers, egal ob urbaner Liberaler, Migrant oder SVP-Anhänger. Dazu ist ein gewisses, zum Beitragen ans Gemeinwohl verpflichtendes, Zusammengehörigkeitsgefühl notwendig. Deine pointierten Spitzen gegen rückwärtsgewandtes SVP-Gedankengut helfen, dessen Schwächen aufzuzeigen, aber sind wohl weniger tauglich für die Entwicklung tragfähiger Lösungen unter dem notwendigen Einbezug aller.
Gratulation zu Deinen interessanten und mutigen Beiträgen, es macht Spass Deine Artikel zu lesen!

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