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Migration und Rechtsstaat Schweiz

Der Migrationspakt und wer in der Schweiz das Sagen hat

Die schweizerische Haltung zum Migrationspakt wird vom rechtsbürgerlich dominierten Bundesrat bestimmt. Das wirft ein Licht auf eine interessante Entwicklung in der Schweizer Politik: Der europäische Integrationsprozess führt zu Machtverschiebungen innerhalb der Schweiz.

Am vergangenen Mittwoch stellte die EU-Kommission den neuen Migrationspakt vor. Die wichtigsten Punkte des Migrationspakts habe ich in diesem Beitrag niedergeschrieben. 

Für die Schweiz ist der Migrationspakt ebenfalls relevant, weil sie das Dublin-Abkommen mitunterzeichnet hat und die europäische Asylpolitik dadurch mitträgt. Es ist noch unklar, wie genau die Schweiz sich beteiligen wird. Aber wenn sie ihre Stimme mit einbringen will, dann ist jetzt der Zeitpunkt, dies zu tun. Als nächstes geht der Vorschlag nämlich in den EU-Rat. Am 8. Oktober treffen sich die nationalen Justizministerinnen in Brüssel, um den Vorschlag zu beraten. Die Schweiz kann zwar nicht mitbestimmen, ihre Vorschläge werden aber dennoch ab und zu berücksichtigt. Man erinnere sich an das Beispiel der Waffenrichtlinie, die extra für die Schweiz angepasst wurde.

Die Schweizer Position

Doch was ist diese Schweizer Position? In den schweizerischen Medien kommen die Justizministerin Karin Keller-Sutter und das ihr unterstellte Staatssekretariat für Migration zu Wort. Sie zeigen sich erfreut über den Vorschlag der Kommission. Die Stossrichtung des Vorschlags scheint den Interessen der Schweiz zu entsprechen. 

Aber in der Asylpolitik geht es nicht nur um Interessen. Es ist ein inhärent politisches Dossier. Über die politischen und moralischen Fragen der Asylpolitik ist die schweizerische Innenpolitik tief gespalten. Wer nur von Interessen spricht, blendet einen Teil der innenpolitischen Positionen bewusst aus. 

Auf EU-Ebene ist die schweizerische Politik nur durch die Regierung vertreten – eine Regierung mit einer rechtsbürgerlichen Mehrheit. Die zwei für dieses Dossier verantwortlichen Bundesrätinnen (Cassis als Aussenminister und Keller-Sutter als Justizministerin) sind ebenfalls Teil dieser rechtsbürgerlichen Mehrheit. Es ist also kein Wunder, dass “die Schweiz” sich für den restriktiven Migrationspakt ausspricht. Die schweizerische Position in Brüssel ist jene des rechtsbürgerlichen Bundesrats.

Ist Europapolitik Aussenpolitik?

Das heisst nicht, dass eine linke Bundesrätin oder eine mitte-links Mehrheit im Bundesrat den Migrationspakt im Alleingang auf den Kopf stellen könnte. Aber mit einer stärkeren EU-Integration wird die Rolle des schweizerischen Bundesrats und der Verwaltung wichtiger. Aussenpolitik ist eine klassische Aufgabe der Regierung. Und Europapolitik wird in der Schweiz nach wie vor wie Aussenpolitik behandelt. Das heisst: Je mehr klassisch innenpolitische Themen (zum Beispiel die Grenzpolitik) auf europäischer Ebene entschieden werden, desto stärker wird die Position der Regierung und desto schwächer werden die klassischen Akteure des innenpolitischen Prozesses (National- und Ständerat). 

Das gilt nicht nur für die Schweiz, sondern auch für andere europäische Länder. In EU-Mitgliedstaaten haben politische Parteien ohne nationale Regierungsbeteiligung aber die Möglichkeit, über den Weg des europäischen Parlaments Einfluss zu nehmen. Dieser Weg steht in der Schweiz momentan nicht zur Diskussion. 

Die Tücken der Konkordanz

Zudem funktionieren die meisten europäischen Demokratien in einem Regierungs-/Oppositionssystem. Zusätzliche Macht für die Regierung ist weniger problematisch, wenn man deren Fehler durch die Wahl der Oppositionspartei ahnden kann. Im schweizerischen Konkordanzsystem ist das schwieriger. Bei Fehlern kann sich jede einzelne Bundesrätin hinter dem Gremium verstecken. Und selbst wenn klar ist, wer verantwortlich ist, hat die Bevölkerung kaum Mittel, die Bundesrätin abzuwählen. Denn der Bundesrat wird nicht vom Volk gewählt. Und die Parlamentswahlen 2019 haben gezeigt dass selbst grosse Verschiebungen des Wähleranteils nicht zwingend zu einem Wechsel in der Regierung führen. 

Mehr europäische Integration führt also nicht nur dazu, dass Themen sich von der nationalen Ebene zur europäischen verschieben. Sie führt auch zu Machtverschiebungen innerhalb der Schweiz. 

Viele der in Europa erlassenen Regulierungen, die für die Schweiz relevant sind, betreffen technische Fragen. Sie benötigen keine grosse politische Debatte. Aber ab und zu sind es höchst politische Fragen, wie die aktuelle: Wie soll unsere Gesellschaft mit Menschen umgehen, die bei uns Schutz suchen?

Neue Wege

Wenn die EU ihren Integrationsprozess fortführt, werden solche Fragen öfter auf europäischer Ebene entschieden werden. Spätestens dann sollten Parteien und andere politische Akteure, die sich nicht durch den Bundesrat vertreten sehen, nach neuen Wegen suchen, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. 

Zum Beispiel könnte man dem Parlament stärkere Mitsprache-Rechte geben in europapolitischen Angelegenheiten. Ein anderer Weg würde am Konkordanzsystem des Bundesrats rütteln, ihn parteiischer machen. So wäre es einfacher, den Bundesrat für seine Entscheidungen in die Verantwortung zu ziehen. Das hätte Konsequenzen für die ganze politische Landschaft der Schweiz. Weniger einschneidend wäre der Weg über die europäische Ebene. Parteien und Zivilgesellschaft könnten in Brüssel ihre eigenen Kontakt-Büros unterhalten, um direkt mit den Entscheidungsträgerinnen in Kontakt zu treten.

Eine detailliertere Diskussion solcher Wege der Einflussnahme soll Thema eines künftigen Beitrags im Hauptstadt-Bericht sein. Hast du Ideen oder Vorschläge zu diesem Thema? Ich freue mich auf deine Kontaktaufnahme per Mail auf janos.ammann@hauptstadt-bericht.eu.