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EU verstehen Migration und Rechtsstaat

Konsens ist der Mörtel der Festung Europa

Auf der Suche nach einem Konsens wird die Asylpolitik Europas repressiver. Eine Einschätzung des Inhalts und der Beweggründe des Migrationspakts.

Die Festung Europa

Am Mittwoch, 23. September, stellten der Vize-Präsident der Kommission Margaritis Schinas und die EU-Kommissarin Ylva Johansson den sogenannten “Migrationspakt” vor. Er soll das bisherige Dublin-System verbessern. Als Dublin-assoziiertes Land betrifft dies auch die Schweiz.

Die Probleme des Dublin-Systems

Das europäische Asyl-System funktioniert schon lange nicht mehr. Das Dublin-Abkommen besagt, dass Geflüchtete nur in einem EU-Staat ihren Asyl-Antrag stellen können und zwar in jenem, in dem sie erstmals EU-Boden betreten. Das führte zur Überforderung Italiens und Griechenlands. 

Seit 2015 gibt es Bemühungen, das Dublin-System zu reformieren. Die Juncker-Kommission versuchte, Geflüchtete mit einem Verteilschlüssel verbindlich auf die Mitgliedstaaten aufzuteilen. Das scheiterte am Widerstand einiger osteuropäischer Regierungen.

Die italienischen und griechischen Regierungen wurden zwar mit Geld unterstützt, aber ansonsten hat sich auf europäischer Ebene nicht viel getan. Aus Angst vor einer Stärkung rechter Parteien und weil rechte Parteien (zum Beispiel in Österreich und in Italien) tatsächlich an die Macht kamen, hat sich in der europäischen Asylpolitik eine Abschreckungslogik etabliert. Das heisst, man behandelt die Geflüchteten möglichst schlecht, damit andere keinen Anreiz haben, sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Trauriger, zwischenzeitlicher Höhepunkt dieser Abschreckungspolitik war das Feuer im Flüchtlingslager Moria.

Der Migrationspakt

In diesem Kontext präsentierten Schinas und Johansson den neuen Vorschlag der EU-Kommission zur Asylpolitik. Der Vorschlag beinhaltet drei Aktionsebenen.

Erstens soll die internationale Zusammenarbeit mit Herkunftsländern sowie Transitländern intensiviert werden. Wie genau das aussehen soll, ist noch unklar, aber es könnten Deals sein wie jener mit der türkischen Regierung. Die EU kann Geld, Marktzugang, Visa-Erleichterungen oder andere Unterstützungsmassnahmen anbieten. Im Gegenzug sollen Transitländer die Durchreise erschweren und die Herkunftsländer abgewiesene Asylbewerberinnen wieder zurücknehmen.

Zweitens soll es zu einem effektiveren “Grenzmanagement” kommen. Unmittelbar nach der Ankunft in einem EU-Land sollen die Behörden Identitäts-, Gesundheits- und Sicherheitschecks durchführen, deren Resultate in der europäischen “Eurodac”-Datenbank abgelegt werden. Innert fünf Tagen soll die Behörde entscheiden, ob eine Person in ein Schnellverfahren oder ein normales Verfahren kommt. Am Grundsatz, dass Asylverfahren im Land stattfinden sollen, in dem Asylbewerberinnen ankommen, ändert sich nichts.

Drittens soll die Kommission anhand der Grösse und Wirtschaftskraft eines Mitgliedstaats festlegen, wieviele Geflüchtete jedes Land aufnehmen muss. Mitgliedstaaten können aber auch entscheiden, keine Geflüchtete aufzunehmen, und stattdessen Abschiebungen zu sponsern – “Rückführungspatenschaft” heisst das im EU-Sprech. Wie genau das funktionieren soll, ist noch unklar. Die Kommission weist explizit darauf hin, dass Mitgliedstaaten sich nicht von ihren Verpflichtungen freikaufen können. Das heisst, dieses Sponsoring wird nicht nur auf die Finanzierung der Abschiebungskosten hinauslaufen.

Löst der Migrationspakt die Probleme?

Das offensichtlichste Manko des Migrationspakts besteht darin, dass er das Hauptproblem nicht angeht. Menschen begeben sich auf die lebensgefährlichen Fluchtwege, weil sie keine Möglichkeit haben, legal einzureisen. Die Thematik der legalen Fluchtwege spricht der Kommissionsvorschlag jedoch kaum an. Wer sein Recht auf Asyl in Anspruch nehmen will, muss also weiterhin viel Geld an Schlepper zahlen und eine lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer auf sich nehmen. 

Bei der vertieften internationalen Zusammenarbeit wird es stark auf die Details ankommen. Sind es Deals, die vor allem repressive Mittel in den Transitstaaten unterstützen, machen sie den Weg für Asylsuchende noch gefährlicher und teurer. Geht es um wirtschaftliche Entwicklungshilfe, ist dem grundsätzlich nichts entgegenzusetzen. Aber es soll sich niemand die Illusion machen, dass durch wirtschaftliche Entwicklung Migration eingedämmt werden könne. In vielen Fällen verstärken sich Migrationsbewegungen, wenn ein armes Land reicher wird. Das liegt daran, dass Menschen, die vorher zu arm waren, plötzlich die Mittel haben, um sich auf den Weg zu machen. Erfreulich ist, dass auch Visas für reguläre Migration als Teil des Massnahmenbündels genannt werden. 

Die vorgeschlagenen Massnahmen in Sachen “Grenzmanagement” zeigen, dass keine Abkehr von den Flüchtlingscamps vorgesehen ist. Grundsätzlich sollen die Gesuche der Geflüchteten nach wie vor im Ankunftsstaat abgewickelt werden. Die Hauptverantwortung liegt also weiterhin bei Staaten wie Italien und Griechenland. Geschlossene Flüchtlingscamps wie in Moria bleiben also Teil der europäischen Asylpolitik. Die Beschleunigung der Asylverfahren durch ein Schnellverfahren für einfachere Fälle könnte den Druck auf die Flüchtlingscamps etwas reduzieren. Ob die Beschleunigung des Prozesses möglich ist, wenn man gleichzeitig einen fairen Prozess garantieren wird, bleibt fraglich. Ein Grund, weshalb der Prozess so lange dauert, ist die Schweirigkeit, zwischen ökonomischen und politischen Flüchtlingen zu unterscheiden. Der Rechtswissenschaftler Stefan Schlegel argumentiert in diesem Beitrag, weshalb diese oft künstliche Trennung zugunsten besserer Kriterien aufgegeben werden sollte.

Das wirklich Neue des Vorschlags ist, dass Mitgliedstaaten keine Flüchtlinge aufnehmen müssen, wenn sie nicht wollen. Stattdessen können sie ihrer “europäischen Solidarität” durch die Übernahme von “Rückführungspatenschaften” nachkommen. Dass die Kommission bei der Abschiebung von abgewiesenen Asylbewerberinnen von “Solidarität” und “Patenschaft” spricht, hat Neusprech-Qualität von orwell’schem Ausmass. Zudem stellen sich rechtsstaatliche Fragen. Sollen ausgerechnet jene Regierungen die Abschiebung organisieren, die die grössten rechtsstaatlichen Probleme haben und die am fremdenfeindlichsten eingestellt sind?

Die Rolle der Kommission

EU-Kommissarin Johansson betonte an der Pressekonferenz wiederholt, dass Migration eine Realität ist, die Europa nicht verhindern könne sondern nutzen solle. Davon ist im Vorschlag nicht viel zu sehen. Der Fokus liegt auf Repression und Migrationsverhinderung. 

Der Grund für diesen Fokus liegt in der Blockade-Haltung der Regierungen aus Ungarn, Polen und der tschechischen Republik, die den Kommissionsvorschlag von 2015 zum Absturz brachte. Einen zweiten Absturz will die EU-Kommission unbedingt verhindern. Die Kommission kann die Asylpolitik nicht selbst bestimmen. Ihr Ziel ist es, einen Konsens zu finden unter den Mitgliedstaaten und dem europäischen Parlament. Die operative Umsetzbarkeit dieses Konsens und moralische Bedenken sind für die Kommission zweit- und drittrangig. Nicht weil die EU-Kommission dumm oder böse wäre, sondern weil das in der EU-Institutionenarchitektur ihre Rolle ist. In einem politisch brisanten Thema wie dem Migrationspakt ist diese Prioritätensetzung einfach etwas sichtbarer als in anderen. 

Ob der Vorschlag den ersehnten Konsens herbeiführen wird, ist noch unklar. Die ersten Rückmeldungen aus Ungarn und Polen stimmen nicht zuversichtlich. Es stellt sich die Frage, ob diese Regierungen überhaupt ein Interesse an einem Konsens haben. Vielleicht profitieren sie politisch mehr, wenn sie die Kommission vor sich hertreiben und das Problem bewirtschaften statt lösen – eine Art SVP-Strategie auf kontinentalem Level.

Apropos SVP: Der Migrationspakt ist auch für die Schweiz relevant. Weil dieser Beitrag schon viel zu lange ist, werde ich die Konsequenzen für die Schweiz in einem nächsten Beitrag behandeln.