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Moria und die Städte Europas

Europas Versagen in Moria ist auch eine Geschichte nationaler Blockaden gegenüber hilfsbereiten europäischen Städten.

Moria Europa

Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist abgebrannt. Die ohnehin schon miserablen Lebensbedingungen für die ca. 13’000 Bewohnerinnen des Flüchtlingslagers haben sich nochmals verschlechtert. Dabei hätte das Flüchtlingslager schon längst evakuiert sein können. Es gab genügend Städte, die die Geflüchteten aufgenommen hätten. Aber passiert ist wenig. Die nationalen Regierungen blockierten. Für Progressive ist es Zeit, die Rolle und Macht der Städte zu überdenken.

Städte sind meist linker, liberaler und wirtschaftlich dynamischer als ländliche Regionen. Sie bieten gute politische Voraussetzungen, um Geflüchtete aufzunehmen, und gute wirtschaftliche Voraussetzungen, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Viele Städte haben neben den Voraussetzungen auch den Willen, mehr Geflüchtete aufzunehmen. Im April dieses Jahres sandten niederländische, belgische, deutsche und spanische Städte einen Brief an die europäischen Institutionen und zeigten sich bereit, die unbegleiteten Minderjährigen aus den griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen. Die Städte organisieren sich unter dem Namen “Solidarity Cities”, eine Initiative der Interessensvertretung der grossen europäischen Städte “Eurocities”. “Städte sehen, wie die Arbeitsmarkt-Integration von Geflüchteten im Alltag funktioniert. Sie sehen, dass es machbar ist”, sagt Katharina Bamberg, Policy Advisor bei Eurocities.

Deutsche Städte fordern schon länger, mehr Geflüchtete aufnehmen zu dürfen. In diesem Frühjahr bestärkten sie diese Forderung nochmals. Sie wollten unter anderem das griechische Flüchtlingslager evakuieren, das diese Woche Opfer der Flammen wurde. Die Bundesregierung stellte sich quer und verhinderte die Evakuierung. 

In der Schweiz sieht das Bild ähnlich aus. Auch schweizerische Städte fordern seit einiger Zeit, mehr Geflüchtete aufnehmen zu dürfen. Sie taten dies im Juni dieses Jahres und wiederholten die Forderung in dieser Woche. Aber der Bund wehrte ab. Bundesrätin Keller-Sutter weist die Städte in ihre Schranken. Beim Asylverfahren entscheide der Bund, für die Städte gebe es keine rechtlichen Grundlagen. Im Klartext: “Ihr dürft nicht und wir wollen nicht.”

Update: Die Schweiz hat sich unterdessen bereit erklärt, 20 Kinder aufzunehmen. Zwanzig.

Die nationalen Regierungen argumentieren, dass man eine “europäische Lösung” für das Problem brauche und bis dahin nationale Alleingänge nicht angebracht seien. Gleichzeitig beharren sie darauf, dass Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik eine nationale Aufgabe sei und Städte deshalb nichts zu melden hätten.

Angesichts der Fundamentalopposition einiger europäischer Regierungen (zum Beispiel Ungarn, Polen und Tschechien) ist klar, dass eine “europäische Lösung”, wie sie der deutschen Regierung oder dem schweizerischen Bundesrat vorschwebt, nicht zustandekommen wird. Der Verweis auf eine künftige europäische Lösung ist die Ausrede, mit der sich die nationalen Regierungen aus der Verantwortung ziehen. 

Dass in naher Zukunft keine andere europäische Flüchtlingspolitik in Aussicht steht, heisst: Die aktuelle, entwürdigende Abschreckungspolitik IST die europäische Lösung. 

Die nationalen Regierungen haben Angst, im Alleingang mehr Geflüchtete aufzunehmen, weil sie eine erneute Stärkung rechter Parteien befürchten. Aus Furcht vor rechten Parteien machen sie deren Politik.

Was können Städte und die darin oft überwiegenden progressiven Kräfte tun?

Die heutige Strategie besteht darin, themenspezifisch Einfluss zu nehmen auf die Entscheidungsträgerinnen in den EU-Institutionen und in den nationalen Regierungen. So arbeitet zum Beispiel auch “Eurocities”, die Interessenvertretung der Städte in Brüssel. Viel aktivistischer, aber ebenfalls auf themenspezifischen Einfluss fokussiert, sind die Kampagnen von NGOs wie der Seebrücke

Wie anhand der aktuellen Blockade durch nationale Regierungen ersichtlich ist, sind dieser Strategie enge Grenzen gesetzt. Vielleicht lassen sich einige nationale Regierungen durch den Brand in Moria und die damit verbundene, mediale Aufmerksamkeit noch dazu überreden, Geflüchtete aus Moria aufzunehmen. Aber der Fakt, dass es zuerst zu dieser Katastrophe kommen musste und dass alle vorherigen Katastrophen nicht genügten, zeugen eher von den Grenzen dieser Strategie als von ihrer Wirksamkeit.

Eine andere Strategie wäre es, den Städten selbst mehr Macht zu verschaffen. Einige europäische Städte versuchen das schon, wenn auch zaghaft. Die meisten Versuche konzentrieren sich darauf, den Städten direkten Zugang zu EU-Geldern zu verschaffen ohne Umweg über die nationalen Regierungen. Diese Vorstösse gibt es nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Im Februar 2020 forderten die Bürgermeisterinnen aus 15 europäischen Städten Zugang zu EU-Mitteln für Projekte zur Bekämpfung des Klimawandels. Die vier Bürgermeister von Prag, Budapest, Warschau und Bratislava boten sich der EU im vergangenen Dezember ebenfalls als Partner an. Auch sie wollten direkten Zugang zu EU-Geldern. Sie versprachen im Gegenzug, dass die Gelder besser eingesetzt würden als in den nationalen, rechtspopulistischen und oft korrupten Regierungen.

Flüchtlingspolitik, Klimapolitik, Kampf gegen Rechtspopulismus: Die Basis für eine breite, progressive Koalition scheint vorhanden. Der Fokus auf Zugang zu EU-Geldern zeugt aber nicht von einer sehr nachhaltigen Strategie. Es gibt auch andere Ansätze.

In der Stadt Zürich zielt das Projekt “Züri City Card” darauf ab, Sans Papiers mit offiziellen, städtischen Identitätsausweisen auszustatten. Mit diesen können sie dann ein Bank-Konto eröffnen, Handy-Verträge abschliessen und sich gegenüber der Polizei ausweisen. Als Vorbild dienen sogenannte “Sanctuary Cities” in den USA. Diese schützen ihre Bewohnerinnen ohne gültigen Aufenthaltsstatus vor Deportation durch die US-Bundesbehörden.

Eine langfristige Strategie würde auf eine institutionelle Stärkung der Städte gegenüber den nationalen Regierungen setzen, zum Beispiel durch verstärkte Autonomie-Rechte und mehr Mitbestimmung bei der Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene.

Das ist ein langfristiges, schwieriges Projekt und kann deshalb nur als Ergänzung zu den bisherigen Bemühungen gesehen werden. Für die obdachlosen Geflüchteten auf den griechischen Inseln bringt es vorerst nichts. 

Dennoch scheint es mir eine notwendige Entwicklung für das progressive Lager zu sein. Es genügt nicht, gute politische Ideen zu haben, wenn man keine Macht hat, diese umzusetzen. Es genügt nicht, zu wissen, was die Mächtigen tun sollten. Man braucht auch eine Strategie, um an die dafür notwendige Macht zu kommen.

Aufruf an die Leser*innen des Hauptstadt-Berichts: Hast du Ideen, wie eine institutionelle Stärkung der Städte in der EU oder in der Schweiz aussehen könnte, oder kennst du Initiativen in diese Richtung? Ich freue mich über deine Nachricht auf janos.ammann@hauptstadt-bericht.eu oder bei Twitter unter dem Handle @HauptstadtBrcht.