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Europa in der Welt

Europäische Sicherheit – bald ohne grosse Schwester?

Europa verlässt sich für die eigene Verteidigung auf die NATO und auf die USA. Wie lange geht das noch gut?

Die USA beschützt Europa

Die EU – und in ihrer geografischen Mitte auch die Schweiz – blieb lange vor Kriegen verschont. Wie die EU Krieg in ihrem Innern verhindern konnte, habe ich bereits früher in diesem Artikel beschrieben. In Kürze: Ein wesentlicher Grund dafür sind die politischen Institutionen der EU, die Konflikte zwischen europäischen Staaten auf geregelte, politische Bahnen lenken. Das erklärt, weshalb es innerhalb der EU keine Kriege gibt. Es erklärt aber nicht, weshalb EU-Staaten nicht von aussen angegriffen werden.

Hier kommt der Sicherheitsschirm der NATO ins Spiel. Wird ein NATO-Mitgliedstaat angegriffen, so eilen die anderen NATO-Mitgliedstaaten zur Hilfe (siehe Artikel 5 des NATO-Vertrags). Die NATO ist deshalb so wertvoll, weil die stärkste Armee der Welt – die US-Armee – hinter ihr steht. Ein Pausenhof-Bully wird auch dem schmächtigsten Kerlchen kein Pausenbrot stehlen, wenn dessen Schwester eine 2-Meter grosse Kickbox-Weltmeisterin ist. Niemand ist so dumm, einen Krieg mit der USA anzuzetteln. 

Putin kann es sich zwar erlauben, in einen Nichtmitgliedstaat der NATO wie Georgien, die Ukraine oder bald vielleicht Belarus einzumarschieren, nicht aber in NATO-Mitgliedstaaten wie Estland, Lettland und Litauen. NATO-Mitgliedstaaten wurden bisher in Ruhe gelassen. 

Die meisten EU-Mitgliedstaaten sind auch Teil der NATO. Weil die NATO Europa zuverlässig vor militärischen Konflikten abschirmte, gab es in Europa bisher kaum Druck, die eigenen Verteidigungskapazitäten auszubauen. Weil die Kickbox-Schwester immer da war, ging das schmächtige Kerlchen selbst nie ins Krafttraining. Das könnte sich jetzt rächen.

Die NATO kriselt seit längerem. Die USA beklagen sich, dass die europäischen Staaten zu wenig in Verteidigung investieren. Unter Trump ging die Kritik so weit, dass unklar war, ob er die US-Armee im Ernstfall zur Verteidigung der NATO-Staaten einsetzen würde. Das schwächt die NATO doppelt. Erstens vermindert der drohende Wegfall der US-Armee die Abschreckungswirkung der NATO. Zweitens wird es viel riskanter für andere NATO-Staaten, einander militärisch zur Hilfe zu eilen, wenn sie die USA nicht im Rücken haben. Das heisst, das Bündnis-Versprechen und seine Abschreckungswirkung verlieren an Wert.

In den nächsten Wochen und Monaten könnte sich die Lage akut zuspitzen. Einerseits wegen der Türkei und andererseits aufgrund der US-Wahlen.

Die Türkei, ein NATO-Mitglied, hätte in diesem Sommer beinahe einen militärischen Konflikt mit dem NATO-Mitglied Griechenland angezettelt. Frankreich – ebenfalls NATO-Mitglied – kam Griechenland zur Hilfe und schickte Kampfschiffe in die Krisenzone im östlichen Mittelmeer. Die Konfliktpartner verhandeln zur Zeit unter deutscher Moderation, aber die Situation bleibt angespannt. Schon im Frühsommer standen türkische und französische Schiffe vor der libyschen Küste kurz davor, sich gegenseitig zu beschiessen. Wenn offiziell Verbündete in einem Militärbündnis plötzlich gegeneinander Krieg führen, sinkt der Wert des Militärbündnisses gegen null. 

Das zweite Problem für die europäische Sicherheit kommt mit den US-Wahlen. Sollte Trump wiedergewählt werden, wäre das die Bestätigung seiner wirren “America First” Aussenpolitik.  Er hätte weitere vier Jahre Zeit, die Regierung, Verwaltung und Armee-Spitze auf persönliche Loyalität zu trimmen. In dieser Situation wäre es fahrlässig von den europäischen Staaten, sich für die nationale Sicherheit weiterhin auf die Sicherheitsgarantie der NATO zu verlassen. 

Wenn Biden die Wahl gewinnt, ist es gut möglich, dass Trump die Wahl nicht akzeptieren wird. Das Land könnte in eine institutionelle Krise stürzen. Und während eines solchen internen Machtkampfes wäre es schwer vorstellbar, dass die USA ihre Macht (auch ihre Schutzmacht) gegen aussen wirksam einsetzen kann.

Noch stehen die düsteren Zukunftsszenarien im Konjunktiv geschrieben. Aber die Gefahr für die NATO und somit für die europäische (und damit die schweizerische) Sicherheit ist real. Europa muss sich darauf vorbereiten, plötzlich ohne den Schutz der grossen Schwester auf dem anarchischen Pausenhof der Weltpolitik zu stehen.