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Gas, Geopolitik und Korruption

Fossiles Erdgas bedroht die europäischen Klimaziele und spaltet Europa politisch. Mittendrin: Ein Unternehmen Putins mit Hauptsitz in der Schweiz.

Nawalny-Strasse

Nach der Verhaftung des russischen Oppositionellen Alexey Navalny häuft sich die Kritik an Nord Stream 2 – eine Gas-Pipeline, die momentan in der Ostsee zwischen Russland und Deutschland verlegt wird. Sie ist ein geopolitisches Projekt Putins mit administrativem Hauptsitz in meiner Heimatstadt Zug. Es lebe die Neutralität. Doch dazu kommen wir später.

Zunächst sind andere Fragen wichtiger: Wieso wird in Europa die Infrastruktur für fossile Energien ausgebaut, während man sich gleichzeitig zu ambitionierten Klimazielen verpflichtet? Weshalb treibt Deutschland ein geopolitisches Projekt Russlands voran, das niemand sonst in Europa will? Die Antworten auf diese Fragen geben uns einen Einblick in die europäische Politik.

Die grüne Illusion

Als 18-Jähriger lernte ich in einem weissen, Erdgas-betriebenen Fiat Panda Auto fahren. Vorne, hinten und an den Seiten stand in grossen Lettern “Ich fahre mit Erdgas”. Dazu das grüne Blatt. Ich fühlte mich unheimlich rebellisch unter all den Range Rovern und Maseratis auf den Strassen des Kantons Zug. So viel umweltfreundlicher! Ich fuhr mit Luft, während sich andere mit dem Destillat einer schwarzen Giftsuppe antrieben, die immer mal wieder ganze Kolonien von Meeresvögeln vernichtete.

Heute ist klar: Ich war Opfer einer schlauen Marketing-Strategie der Gas-Industrie. Gas kann – je nach Förderungs- und Transport-Art – sogar klimaschädlicher als Kohle sein. Obwohl die EU wesentlich reifer sein sollte als mein 18-jähriges Ich, droht sie nun in dieselbe Klimafalle zu stolpern und damit ihren European Green Deal zu unterminieren. 

Eine Recherche von Investigate Europe zeigt auf, dass die EU mehr als 100 Milliarden Euro in neue Gas-Infrastruktur investiert. Neue Flüssiggas-Terminals und Tausende Pipeline-Kilometer sind geplant. Dabei bestehen schon in der aktuellen Gas-Infrastruktur Überkapazitäten. Und wenn die EU ihre Klimaziele einhalten soll, muss sie ihren Gasverbrauch bis 2050 auf null oder beinahe null zurückfahren. Dies wird nicht von heute auf morgen geschehen. Das heisst, sobald die zusätzlich geplante Gas-Infrastruktur steht, muss ihre Nutzung schon wieder massiv reduziert werden. 

Ein Grund für die Investitionen in die Gas-Infrastruktur liegt in der neuen Strategie der fossilen Energie-Konzerne. Statt den Klimawandel zu negieren oder seine Bedeutung herunterzuspielen, bieten sie Gas (und somit sich selbst) als Teil der Lösung an.

Dank eines guten Lobbyings gilt Gas nun als “Brückentechnologie”, die den Übergang von Kohle und Öl zu erneuerbaren Energien vereinfachen soll. Aus Industrie-Kreisen heisst es, man könne die Gas-Infrastruktur später umbauen und für den Transport von Wasserstoff nutzen. Aber solange Wasserstoff als Energiespeicher und -träger so teuer ist wie jetzt, wird kaum ein Anreiz bestehen, von Gas auf Wasserstoff zu wechseln. Die Erdgas-Förderer haben ein Interesse daran, so lange wie möglich Gas zu verkaufen.

Interessenkonflikte

Der zweite Grund für den steten Ausbau der Gasinfrastruktur liegt im Mechanismus, wie die EU-Kommission entscheidet, wieviel Gas-Infrastruktur benötigt wird und welche Projekte demnach unterstützt werden sollen. Sie stützt sich dabei auf die Schätzungen der ENTSOG. ENTSOG ist die Vereinigung der europäischen Gas-Infrastruktur-Betreiberinnen. Diese Unternehmen haben alle ein Interesse an der Förderung der Gas-Industrie. Das ist, wie wenn Transportunternehmer Ulrich Giezendanner selbst entscheiden könnte, wieviel Strassenkapazität die Schweiz benötigt.

Kein Wunder also, dass die Schätzungen der ENTSOG einen sehr hohen Gas-Bedarf voraussagen. Unabhängige Expertinnen bezweifeln diese Prognosen.

Darum investiert Europa in Gas, obwohl es wahrscheinlich nicht gebraucht wird und es mit den Klimaschutzzielen in Konflikt steht. 

Der vermeintlich benötigte Ausbau der Gas-Infrastruktur führt zudem zu geopolitischen Wirrungen, die bis in die Schweiz und in die Stadt Zug führen.

Putins Portemonnaie an der Industriestrasse 18

Wenn ich mit dem Fiat Panda durch Zug cruiste und stolz den mickrigen Gas-Motor aufheulen liess, fuhr ich oft an der Industriestrasse 18 vorbei. In diesem unscheinbaren Bürogebäude gleich neben dem Parkhotel hat sich die Nord Stream AG ihren Hauptsitz eingerichtet. Ein Stück russische Korruption im Stadtzentrum von Zug.

Die Nord Stream AG ist die Betreiberin der ersten Nord Stream Pipeline, welche der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder kurz vor dem Ende seiner Amtszeit (als er schon abgewählt war) mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vereinbarte. Wenige Wochen später wurde er zum Verwaltungsratspräsidenten der Nord Stream AG ernannt. Vom Kanzler einer der grössten Demokratien der Welt zum Cheflobbyisten Putins in Rekordzeit. 

Die Nord Stream AG gehört zu 51% dem russischen Gasunternehmen Gazprom. Dieses wird vom Putin-Vertrauten Alexei Miller geleitet, der auch im Vorstand der Nord Stream AG sitzt. Alexei Miller hat mehrere unfreiwillige Gastauftritte im kürzlich von Nawalny veröffentlichten Recherche-Video über die Korruption Putins und seiner Entourage. Schon in den 90er-Jahren, als Putin noch für den Bürgermeister in St. Petersburg arbeitete, war Miller für die Entgegennahme und Verwaltung von Putins Schmiergelder zuständig. 

Es gibt wenig Zweifel daran, dass das Geld, welches dank Nord Stream nach Russland fliesst, in den Taschen Putins und seiner Vertrauten landet. 

Nord Stream 2

Seit Jahren ist nun eine zweite Pipeline zwischen Russland und Deutschland in Planung: Nord Stream 2. Das Büro der Nord Stream 2 AG befindet sich ebenfalls in Zug, drei Gehminuten vom Büro der Nord Stream AG. Putins Gazprom besitzt die Hälfte der Nord Stream 2 Aktien. CEO der Firma ist der ehemalige Stasi-Offizier Matthias Warnig, der – Überraschung! – ebenfalls seit Jahrzehnten ein Vertrauter Putins ist und einen unfreiwilligen Gastauftritt in Nawalnys Recherche-Video hat.

Für Putin ist die Nord Stream 2 Pipeline wichtig, um ein Druckmittel gegenüber osteuropäischen Staaten zu erhalten. Die bisherigen Pipelines (ausser Nord Stream 1) führen durch die Ukraine oder Polen. Putin ist auf Polen und die Ukraine angewiesen, um die für ihn essenziellen Gas-Einnahmen aus dem europäischen Markt zu erhalten. Mit Nord Stream 2 und einer weiteren, südlicher gelegenen Pipeline (Turkstream) erarbeitet Putin sich gegenüber diesen beiden osteuropäischen Staaten eine Machtposition. 

Statt dass die Ukraine und Polen ihm mit dem Abstellen des Geldhahns drohen können, kann Putin ihnen den Gashahn zudrehen, ohne selbst grosse finanzielle Einbussen fürchten zu müssen. Vor allem für die Ukraine, die seit Putins Invasion immer noch in einem militärischen Konflikt mit Russland steht, wäre diese Entwicklung kritisch. Für die osteuropäischen EU-Staaten bedeutet das unilaterale Vorpreschen Deutschlands vor allem, dass die “strategische Autonomie” und die gemeinsame Sicherheitspolitik nach wie vor nicht viel mehr als Schlagwörter sind.

Die USA betrachten die Situation besonders aufmerksam. Einerseits sehen sie sich als Alliierte der osteuropäischen Staaten gegenüber Russland. Andererseits würden sie der EU lieber ihr eigenes Gas verkaufen. Daher haben die USA Sanktionen gegen die an Nord Stream 2 beteiligten Firmen erlassen, um die Fertigstellung der Pipeline zu verhindern. 

Die “Umweltstiftung”

Das schweizerische Aussendepartement äusserte sich kritisch gegenüber den Sanktionen. Die deutsche Politik reagierte mit der bisher eindrücklichsten politischen Akrobatik am Rande der Korruption. Die Regierung des Bundeslands Mecklenburg-Vorpommern richtete die “Stiftung Klima- und Umweltschutz” ein, finanziert von Putins Gas-Monopolisten Gazprom.

Der Stiftungszweck ist die Förderung von Klimaschutzprojekten…

…und die Umgehung amerikanischer Sanktionen, indem sie sich als Zwischenhändlerin für die von Sanktionen bedrohten Unternehmen anbietet.

Dass die beiden Stiftungsziele sich gegenseitig widersprechen, scheint die Regierung Mecklenburg-Vorpommerns nicht zu stören.

Obwohl die deutsche Regierung immer wieder versucht, Nord Stream 2 als europäisches Projekt zu verkaufen, ist Nord Stream 2 ausserordentlich unpopulär in Europa. Kaum jemand sieht einen Sinn darin, sich stärker in die Abhängigkeit Putins zu begeben. Die Kritik wurde nach dem Giftanschlag der russischen Regierung auf den Regierungskritiker Nawalny nochmals lauter. Aber auch das reichte nicht, um die deutsche Regierung von ihrem Kurs abzubringen.

Am 17. Januar wurde Alexej Nawalny bei seiner Rückkehr nach Russland festgenommen. Europäische Regierungen verurteilten dies und forderten die sofortige Freilassung. Die Schweiz reagierte “besorgt”. Das europäische Parlament stimmte am Donnerstag, 21. Januar, mit einer grossen Mehrheit für den Baustopp der Pipeline. Aber die EU kann diesen Baustopp nicht umsetzen, solange sich die deutsche Regierung dagegen wehrt.

Weshalb genau die deutsche Regierung an guten Beziehungen mit Putin festhält, ist unklar. Es ist nicht so, als würde Putin Deutschland mit Gefallen überschütten. Im Jahr 2019 ermordete der russische Geheimdienst einen Tschetschenen in Berlin. Nach der Vergiftung Nawalnys behauptete das russische Aussenministerium, dass es eine von Deutschland inszenierte Intrige gewesen sei. 

Klar ist nur, dass sich Deutschland mit dieser Haltung selbst schadet. Das Festklammern der deutschen Regierung an Nord Stream 2 beschädigt nicht nur ihre Glaubwürdigkeit im Klimaschutz, wie sie ihn von osteuropäischen Staaten verlangt, sondern erschwert auch den transatlantischen Neustart mit den USA unter Joe Biden.

Die Rolle der Schweiz (und der Stadt Zug!)

Die Schweiz scheint sich auch in diesem Fall hinter ihrem Vorhang der Neutralität eine profitable Runde internationale Verantwortungslosigkeit zu gönnen. Die Voten des Aussendepartements sind im internationalen Vergleich zurückhaltend. Kritik an Nord Stream sucht man vergeblich. 

Dabei hätte die Schweiz durchaus Möglichkeiten, etwas zu tun. Als Käuferin deutschen Erdgases kann sie sich dafür einsetzen, dass Nord Stream 2 gestoppt wird. Die Schweiz könnte klarmachen, dass sie kein Gas aus Nord Stream 2 importieren will. 

Ein anderer Ansatz wäre die Sanktionierung der beiden Nord Stream Firmen als Bestrafung für Putins Missachtung der Menschenrechte in Russland. Das Embargogesetz ermöglicht es dem Bund, Zwangsmassnahmen zu erlassen, um Sanktionen durchzusetzen, die der Respektierung von Menschenrechten dienen. Der Bundesrat sollte mit den Sanktionen möglichst genau auf die Nord Stream Firmen zielen. So kann er verhindern, dass die russische Bevölkerung statt Putin darunter leidet. Der Bundesrat könnte mit den Sanktionen so weit gehen, dass ein Bau von Nord Stream 2 nicht mehr aus der Schweiz heraus organisiert werden kann.

Nun bin ich nicht so naiv zu glauben, dass der Bundesrat sich für die Sache der Demokratie mit Putin anlegen wird. Er hat es auch in der Vergangenheit nicht geschafft, sich den EU-Sanktionen gegen Putin anzuschliessen. Deshalb habe ich einen zweiten Vorschlag für mutige Zuger Stadtpolitikerinnen.

Die Stadt Zug sollte in einem Zeichen demokratischer Solidarität die aktuelle “Industriestrasse” oder die “Baarerstrasse” (an der Nord Stream 2 ihren Hauptsitz hat) in “Nawalny-Strasse” umbenennen. So wird jeder Brief an die Nord Stream AG eine kleine Klageschrift über den lamentablen Zustand der russischen Demokratie. Und jeder, der für ein Treffen in das Büro der Nord Stream AG muss und die Adresse dafür in Google Maps eingibt, wird daran erinnert, dass er es mit dem korrupten Regime Wladimir Putins zu tun hat.