In einer vierteiligen Serie analysiere und vergleiche ich die europäische und die schweizerische China-Politik. Im ersten Teil legte ich die Annahmen offen, mit denen ich mich dem Thema nähere. In diesem zweiten Teil geht es um die Strategie der EU gegenüber China.
Welche Strategie?
Das muss die erste Frage sein, wenn es um aussenpolitische Themen oder gar Strategien der EU geht. Aussenpolitik ist immer noch Neuland für die EU. Schliesslich bezweckte die Gründung der Europäischen Gemeinschaft ursprünglich die Eindämmung europäischer Aussenpolitik. Europa sollte nach juristischen und ökonomischen statt geopolitischen Logiken funktionieren. Erst im Verlauf der letzten zehn Jahre verlor die EU ihre aussenpolitische Unschuld unter dem Eindruck des Konflikts in der Ukraine, der Flüchtlingskrise und des Brexits.
Strukturell ist die EU immer noch nicht gut ausgestattet für eine gemeinsame Aussenpolitik. Die EU kann aussenpolitische Entscheidungen nur mit der Zustimmung aller Regierungen der Mitgliedstaaten fällen. Die Aussenpolitik der EU ist also nach wie vor stark die Aussenpolitik der verschiedenen europäischen Staaten. Und die haben unterschiedliche Interessen in der China-Politik.
Divide et impera
Das chinesische Regime nützt dies aus. Mit einem geteilten Europa kann es besser umgehen als mit einem geeinten. So versucht das chinesische Regime, die EU zu spalten.
Manchmal ist sie erfolgreich. Im Jahr 2017 wollte die EU vor der UNO die Menschenrechtslage in China kritisieren, aber die griechische Regierung legte ihr Veto ein. Zuvor hatte China gross in den griechischen Hafen von Piräus investiert.
Ein weiterer Versuch, die Einigkeit der EU zu untergraben, ist das “17+1” Format. Das “17+1” Format ist ein Kooperationsformat, mit dem das chinesische Regime die Beziehungen zu vorwiegend osteuropäischen Staaten pflegen will. Die osteuropäischen Staaten erhofften sich dadurch chinesische Infrastruktur-Investitionen im Rahmen der “Belt and Road Initiative”. Da die Investitionen mehrheitlich ausblieben, hat auch das “17+1” Format an Bedeutung verloren.
Nicht alle Unterschiede zwischen den Interessen der europäischen Staaten sind auf die Taktik des chinesischen Regimes zurückzuführen. Die deutsche Wirtschaft hat ein hohes Handelsvolumen mit der chinesischen Wirtschaft und exportiert fast gleich viel nach China wie in die USA. Das verleitet die deutsche Regierung dazu, China vor allem aus einer wirtschaftlichen Perspektive zu betrachten. Die französische Regierung hingegen sieht zu starke ökonomische Integration mit China als Herausforderung für die strategische Autonomie Europas.
Unter anderem weil Macron die strategische Autonomie nur durch eine gemeinsame europäische Aussenpolitik für umsetzbar hält, bildete sich in den letzten Jahren eine europäische Herangehensweise gegenüber dem chinesischen Regime heraus.
Die heilige Dreiteiligkeit
Ausdruck dieser europäischen Herangehensweise ist das im März 2019 vom Europäischen Rat verabschiedete Strategie-Papier, in der die EU China drei verschiedene Rollen zuschreibt.
China als Kooperationspartnerin: Die EU will bei der Bewältigung globaler Herausforderungen mit China zusammenarbeiten. Dies betrifft vor allem die Klimakrise.
China als wirtschaftliche Wettbewerberin: Die EU will mit China wirtschaften, pocht aber auf faire Wettbewerbsbedingungen. Sie verlangt, dass europäische Unternehmen in China nicht benachteiligt werden.
China als systemische Rivalin: Die EU bringt zum Ausdruck, dass das Staatssystem Chinas nicht mit jenem der europäischen Staaten vereinbar ist. Das chinesische Regime ist eine Herausforderung für die Vormachtstellung der Demokratie als anzustrebende Staatsform und ein Angriff auf den Universalitätsanspruch der Menschenrechte. Zudem fürchtet die EU um ihre Autonomie, wenn strategisch wichtige Industrien nicht mehr in Europa produzieren, sondern von China kontrolliert werden. Unter diesem Aspekt ist auch die im vergangenen Jahr in Kraft getretene europäische Investitionskontrolle zu sehen.
Mit dieser Dreiteilung versucht die EU den breit gefächerten Beziehungen zwischen China und der EU gerecht zu werden. Sie erlaubt auch einen Spagat zwischen wirtschaftlichen Interessen auf der einen Seite und geopolitischen und menschenrechtlichen Bedenken auf der anderen Seite.
Die heilige Scheinheiligkeit
Die Dreiteilung der europäischen China-Politik macht aus der Perspektive der kurzfristigen Wirtschaftsinteressen Sinn, verdeckt aber auch eine gewisse Scheinheiligkeit. Die EU hat keine Armee, sie ist ein Binnenmarkt. Ihre grösste Macht liegt in ihrer wirtschaftlichen Kraft. Indem sie ihre Menschenrechtsanliegen von ihren Wirtschaftsinteressen trennt, gibt die EU ihren wichtigsten Hebel für die Menschenrechte aus der Hand.
Der EU-Spagat zwischen Wirtschaft und Menschenrechten war im vergangenen Jahr gut zu beobachten. Als die Demokratie-Bewegung in Hongkong durch das chinesische Regime unterdrückt wurde, kritisierte die EU das chinesische Regime. Auch die Verfolgung der Uigurinnen wurde wiederholt angeprangert. Die menschenrechtlichen Skandale hielten die europäischen Regierungschefinnen aber nicht davon ab, Ende Dezember ein Investitionsabkommen mit China zu unterzeichnen.
Das unter dem Kürzel CAI (Comprehensive Agreement on Investment) bekannte Abkommen soll europäischen Firmen und Investor*innen in China einen besseren Marktzugang gewähren. Substanzielle Zugeständnisse für die Menschenrechtslage in China sucht man darin vergeblich. Vor allem die deutsche Regierung drängte auf den Abschluss des Abkommens. Die französische Regierung zog mit, um sich die deutsche Beteiligung an der gemeinsamen Aussenpolitik zu sichern.
Aus den USA, aber auch aus dem Europäischen Parlament, schlug dem CAI eine Menge Kritik entgegen: Die US-Regierung ist eher geopolitisch motiviert, während das Europäische Parlament sich als eine Art demokratisches und menschenrechtliches Gewissen der EU sieht. Damit das CAI ratifiziert werden kann, muss das Parlament noch zustimmen.
Ein instabiler Spagat
Am 22. März wurde der Spagat der EU zwischen Wirtschaftsinteressen und Menschenrechtsanliegen in ihrer China-Politik noch anspruchsvoller. Gemeinsam mit Kanada, Grossbritannien und den USA sanktionierte die EU vier chinesische Offizielle aufgrund ihrer Mitverantwortung bei der Verfolgung der uigurischen Minderheit.
Für die Sanktionen nutzte die EU ein neues politisches Werkzeug – den im Dezember 2020 eingeführten EU Magnitsky Act. Dank dieser Regulierung kann die EU Sanktionen gegen Einzelpersonen im Ausland aussprechen, wenn diese für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.
Als Antwort auf die EU-Sanktionen sanktionierte China europäische Parlamentarierinnen, Akademiker und Thinktanks. Unter anderem sanktionierten sie den grünen Politiker Reinhard Bütikofer, der die China-Delegation des Europäischen Parlaments leitet. Begleitet wurden die Sanktionen durch schrille Äusserungen chinesischer Diplomaten und Propaganda in chinesischen Medien.
Nach diesem Angriff auf das Europäische Parlament, wird dieses den CAI kaum ratifizieren können ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Reaktion des chinesischen Regimes zwingt die EU dazu, wirtschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen. So verblasst die Trennung zwischen den Wirtschafts- und Menschenrechtsfragen der europäischen China-Politik.
Die Zukunft ist ungewiss, aber gewiss politischer.
Das chinesische Regime erschwert der EU eine kooperative China-Politik. Die US-Regierung erhofft sich dadurch mehr Unterstützung ihrer konfrontativen China-Politik. Vor allem die französische Regierung wird versuchen, auch gegenüber den USA eine gewisse Distanz zu wahren.
Ob die EU in einer Allianz der Demokratien stärker mit den USA kooperiert, oder ob sie eine eigenständigere China-Politik fährt: Die Interaktion mit dem äusserst politisch handelnden chinesischen Regime zwingt auch die EU dazu, politischer zu handeln. Die EU lernt eine weitere Lektion Machtpolitik.
Und wenn die EU machtpolitisch geübter wird, hat das Auswirkungen auf die Schweiz. Um die Schweizer China-Strategie geht es im dritten Teil dieser Textserie.