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Europa in der Welt Schweiz

Die Widersprüche der Schweizer China-Strategie

Die Schweizer China-Strategie bietet eine gute Analyse. Leider nimmt sie sich selbst nicht ernst. Teil 3 einer Serie über die europäische und die schweizerische China-Politik

Die China-Serie: Eine vierteilige Serie über die europäische und die schweizerische China-Politik.

Am 19. März präsentierte der Bundesrat zum ersten Mal eine China-Strategie. Angesichts der rasanten Entwicklungen in den vergangenen Tagen können die Verfasserinnen der Strategie einem etwas leidtun. Die Ausgangslage hat sich durch die Turbulenzen zwischen China und der EU nochmals wesentlich verschärft. 

Apropos Ausgangslage: Dies ist der dritte Teil einer Text-Serie. In Teil 1 findest du die Annahmen, die dieser Analyse zugrunde liegen, und Teil 2 beschreibt die europäische Herangehensweise an die China-Politik.

Sorgfältige Analyse

Ich werde hier nicht den ganzen Inhalt der China-Strategie zusammenfassen, sondern mich auf wenige Punkte beschränken. Die interessante, kurz gehaltene Broschüre kannst du hier nachlesen. 

Die China-Strategie beschreibt die aussenpolitische und aussenwirtschaftliche Situation Chinas in Bezug zur Schweiz gut. Sie scheut sich nicht, die menschenrechtliche Lage in Xinjiang und das sogenannte “Sicherheitsgesetz” in Hongkong kritisch zu erwähnen. 

Die China-Strategie beschreibt auch, wie das chinesische Regime sich und seine Interessen in den vergangenen Jahren immer stärker im multilateralen System einbrachte. So setze sich das chinesische Regime dafür ein, dass der Zugang zivilgesellschaftlicher Akteure zu Internationalen Organisationen eingeschränkt wird. 

Bezüglich des chinesischen Einflusses auf die internationale Ordnung schreibt das schweizerische Aussendepartement (EDA): “Der Machtzuwachs Chinas und sein robustes Einstehen für eigene Interessen verstärkt die Tendenzen zur weiteren Fragmentierung der internationalen Ordnung.”

Zudem sei das chinesische Regime bestrebt, Menschenrechte im internationalen Diskurs “im chinesischen Sinne umzudeuten”. Ein Blick auf Xinjiang zeigt, was das bedeutet.

Auch die China-Politik der EU wird zutreffend analysiert. Hierzu schreibt das EDA: “Im Verbund hätten die europäischen Staaten das erforderliche Gewicht, um auf der Weltbühne europäische Werte und Interessen zu verteidigen. Unterschiedliche nationale Positionen stehen einer wirksamen gemeinsamen Aussenpolitik der EU aber oftmals im Wege.” 

Widersprüchliche Strategie

Gerade angesichts der guten Analyse enttäuscht der Strategie-Teil der Schweizer China-Strategie. 

Die China-Strategie nennt drei Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und China: 

  1. Der Bundesrat verfolgt eine eigenständige China-Strategie.
  2. Der Bundesrat setzt sich für eine Einbindung Chinas in die liberale internationale Ordnung ein.
  3. Der Bundesrat setzt sich für eine schweizweit kohärente China-Politik ein.

Ich will vor allem auf Punkt 1 und 2 eingehen. Denn sie werden von der Strategie selbst infrage gestellt.

Eigenständig wirkungslos

Die China-Strategie begründet ihr Prinzip der Eigenständigkeit mit der besonderen Rolle der Schweiz als neutrales Land. Über Sinn und Unsinn der Neutralität kann man sich streiten. Aber durch das Beharren auf die Eigenständigkeit verdammt die Schweizer China-Strategie sich selbst zur Wirkungslosigkeit. Das gibt die Strategie indirekt zu, indem sie die europäische China-Politik als wirkungslos bezeichnet, weil europäische Staaten zu oft national statt europäisch handeln.

In Anlehnung an die dreiteilige EU-Strategie hält auch die Schweiz an breit diversifizierten Beziehungen zu China fest. Wirtschaft und Menschenrechte sollen sich möglichst nicht in die Quere kommen. Begründet wird das folgendermassen: “Eine Abkehr der Schweiz von China hätte keine positive Wirkung auf Chinas innenpolitische Entwicklung, würde hingegen den Interessen der Schweiz schaden und Unsicherheiten bezüglich unserer aussenpolitischen Positionierung schüren.”

Die Aussage stimmt – zumindest kurzfristig. Aber sie stimmt nur, weil man auf dem Prinzip der Eigenständigkeit beharrt. Jedes einzelne europäische Land hat keinen grossen Hebel auf China. Europa insgesamt dürfte einen Hebel haben. Man kann einwenden, dass die EU-Staaten sich ebenfalls nicht gut koordinieren und dieser Einwand ist trotz Verbesserungen in letzter Zeit nicht von der Hand zu weisen. Die Schweizer Aussenpolitik muss für sich entscheiden, ob sie ein Teil des Problems sein will.

Freier Handel und ein Menschenrechtsmonolog

Das Beharren auf Eigenständigkeit bietet einen Grund – man darf es auch einen Vorwand nennen – um die wirtschaftlichen Interessen von den menschenrechtlichen Fragen zu trennen. 

Für die menschenrechtlichen Fragen bleibt der sogenannte Menschenrechtsdialog zwischen der Schweiz und China übrig. Wobei China diesen Dialog 2018 abgebrochen hatte, nachdem die Schweiz sich einem internationalen Protest gegen die Zustände in Xinjiang angeschlossen hatte. De facto ist das einzige menschenrechtliche Instrument der Schweizer China-Strategie ein Menschenrechtsmonolog.

Wieso einbinden?

Das zweite Prinzip ist die Einbindung Chinas in die liberale internationale Ordnung. In der China-Strategie bleibt unklar, aus welchen Annahmen sich dieses Prinzip ableitet.

In ihrer Analyse bekräftigt die China-Strategie, dass das chinesische Regime seinen Einfluss in internationalen Organisationen nutzt, um die Zivilgesellschaft zurückzubinden und um ihre eigene Definition von Menschenrechten im internationalen Diskurs durchzusetzen. Das EDA hält sogar fest, dass der Machtzuwachs Chinas zu einer Fragmentierung der internationalen Ordnung führt. Wenn man bedenkt, dass das chinesische Regime seinen bisherigen Machtzuwachs zu einem wesentlichen Teil seiner Einbindung in die internationale Ordnung verdankt, spricht dies eher gegen eine stärkere Einbindung Chinas in die liberale, internationale Ordnung.

Es scheint, als leite der Bundesrat dieses Prinzip der Einbindung nicht aus seiner China-Analyse ab. Das Prinzip wird wie eine Selbstverständlichkeit behandelt. In der China-Strategie drückt diese Selbstverständlichkeit in einer Passage durch, in der die Möglichkeit einer globalen Blockbildung in zwei verschiedene Werte- und Wirtschaftssysteme angesprochen wird: “Eine solche Blockbildung zu Ungunsten multilateraler Lösungen würde weit mehr Verlierer als Gewinner hervorbringen.”

Welche internationale Ordnung?

Diese Aussage wird nicht weiter begründet. Dabei wäre es spannend zu erfahren, welche zwei Szenarien hier miteinander verglichen werden. Vergleicht das EDA eine künftige potenzielle Blockbildung mit der internationalen Ordnung von heute? Oder vergleicht sie das Szenario Blockbildung mit einem Szenario, in dem sich das chinesische Regime plötzlich an die Standards der liberalen Ordnung hält? Beides wäre unrealistisch.

Der sinnvollste Vergleich wäre jener zwischen dem Szenario Blockbildung und dem Szenario einer internationalen Ordnung, wie sie sich unter dem stärkeren Einfluss des chinesischen Regimes weiterentwickeln würde. Laut EDA ist das eine Ordnung mit weniger Einfluss für die Zivilgesellschaft und einem “chinesischeren” Verständnis der Menschenrechte. Verglichen mit so einer internationalen Ordnung könnte eine Art Blockbildung demokratischer Staaten in Abgrenzung zum chinesischen Regime den Werten und Interessen der Schweiz besser entsprechen. Vielleicht lässt sich ein Teil der liberalen internationalen Ordnung nur durch eine Abgrenzung gegenüber dem chinesischen Regime retten. Zumindest sollten das EDA und der Bundesrat diese Abwägung vornehmen und offenlegen. 

Hier ist anzufügen, dass auch die EU sich in ihrer Kommunikation für die Einbindung Chinas in die liberale internationale Ordnung stark macht. Die Vorliebe für Multilateralismus ist in ganz Europa verbreitet. Doch die liberale internationale Ordnung, die diese Staaten kennen und schätzen gelernt haben, ist eine internationale Ordnung unter den Bedingungen US-amerikanischer Hegemonie. 

Orientierungslos

Insgesamt scheitert die China-Strategie daran, dass sie die unangenehmen Fragen nicht diskutiert. Will die Schweiz eine stärkere Einbindung des chinesischen Regimes oder eine liberale Ordnung? Will die Schweiz eine eigenständige China-Politik oder eine wirkungsvolle? 

Weil diese Fragen umschifft werden, bietet die China-Strategie auch keine Orientierung, wenn sich  die Politik des chinesischen Regimes weiter verschärft. Aber genau das passiert. 

Nach der Publikation der China-Strategie beklagte sich der chinesische Botschafter in der Schweiz über angebliche “Fake News”, “Lügen” und “Verleumdungen” in der Schweizer China-Strategie. Gleichzeitig reagierte das chinesische Regime beinahe hysterisch auf Sanktionen, welche die EU gemeinsam mit den USA, Kanada und Grossbritannien gegen vier chinesische Offizielle ergriffen hatte. Die westliche Koalition wollte damit ein Zeichen gegen die Verfolgung der uigurischen Minderheit in Xinjiang setzen.

Die Schweiz beteiligt sich bisher nicht an den Sanktionen, obwohl einige Schweizer Politikerinnen dies fordern. In der China-Strategie steht: “Im Zweifel steht [die Schweiz] für die Freiheit.”

Als Beobachter fragt man sich: Wann beginnt der Zweifel?

PS: Ein Detail in der China-Strategie ist das Ziel der Schweiz, sich in China als “nachhaltiges Reiseland” zu positionieren. Wie das möglich sein soll, wenn man die Reise nur per Flug um die halbe Welt antreten kann, hält die China-Strategie uns leider vor.

Auszug aus der China-Strategie: "Die Schweiz positioniert sich gegenüber China als nachhaltiges Reiseland"
Die Schweiz positioniert sich als nachhaltiges Reiseland in China. Anreise bitte zu Fuss oder per Velo. Quelle: China-Strategie, S. 25. https://www.eda.admin.ch/dam/eda/de/documents/publications/SchweizerischeAussenpolitik/Strategie_China_210319_DE.pdf

PPS: Die Entwicklungen deuten nicht auf eine “Einbindbarkeit” des chinesischen Regimes hin. Es zeichnet sich eine stärkere Blockbildung ab, sowie ein Europa, das Machtpolitik lernt. Was bedeutet das für die Politik der kommenden Jahre? Diese Frage behandle ich in Teil 4 der China-Serie.