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Europa in der Welt Schweiz

Teil 1 der China-Serie: Annahmen

Der erste Teil einer Serie über die europäische und die schweizerische China-Politik

Schon seit Langem wollte ich über die europäische und die schweizerische China-Politik schreiben. In einer Umfrage zur EU-Agenda zu Beginn des Jahres zeigten die Leserinnen des Hauptstadt-Berichts zudem ein hohes Interesse an der China-Politik der EU. Also setzte ich mich hin, schrieb los und eskalierte in eine vierteilige Serie.

Im ersten Teil beschreibe ich der Transparenz halber die Annahmen, auf welchen meine Einschätzungen basieren. Im zweiten Teil analysiere ich die China-Strategie der EU und im dritten Teil die kürzlich publizierte China-Strategie der Schweiz. Im vierten Teil ziehe ich einige Schlussfolgerungen.

Los gehts mit Teil eins.

Bisher tat ich mich schwer, über China und dessen Regime zu schreiben. Das Thema hat so viele Facetten und kann aus so vielen Perspektiven betrachtet werden, dass es einen überwältigen kann: China ist ein attraktiver Markt – China ist ein totalitäres Regime – alles halb so schlimm, wenn du Konfuzius verstehst – China bedroht die Demokratie weltweit – China nimmt nur den Platz wieder ein, den es über Jahrhunderte hinweg innehatte – China betreibt eine aggressive Aussenpolitik – China reagiert nur auf die US-amerikanischen Eindämmungsversuche – China wird zur vorherrschenden Weltmacht – China wird an seinen Widersprüchen zerbrechen…

Facts First

Nicht alle Annahmen und Perspektiven sind gleich legitim. Sie müssen den Fakten entsprechen. Einige dieser Fakten sind die ausgedehnten überwachungsstaatlichen Möglichkeiten des chinesischen Regimes, die Verfolgung, Masseninternierung und Zwangssterilisierung der uigurischen Minderheit in Xinjiang, die Unterdrückung der Demokratie-Bewegung in Hongkong und der tibetischen Freiheitsbemühungen.

Aber auch unter Akzeptanz dieser Fakten kann man verschiedenste Perspektiven zu China einnehmen. Um diesem Perspektiven-Gewirr zu entkommen, möchte ich zuerst die Annahmen offenlegen, auf denen meine Analyse basiert:

Das chinesische Regime ist als totalitär zu betrachten

China ist ein Einparteienstaat. Die Partei kontrolliert die Justiz und das Internet. Sie hat in Teilen des Landes einen totalitären Überwachungsstaat eingeführt. Das Regime hat in Hongkong wieder bewiesen, dass es massive Volksaufstände unterdrücken kann. Auch wenn das Regime zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung aktuell nicht überall eine totale Kontrolle ausübt, scheint es die Fähigkeit zu haben, das jederzeit zu tun.

Das chinesische Regime ist nur solange nicht totalitär, wie es dem Regime passt.

Genau wie jemand sich nicht frei nennen kann, wenn seine Freiheit von der Willkür seines Herrschers abhängt, muss ein Regime totalitär genannt werden, wenn die Durchsetzung der totalen Kontrolle einzig von der Willkür des Regimes abhängt.

Das chinesische Regime wird mittelfristig nicht fallen

Inspiriert vom Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es Theorien, dass autoritäre und totalitäre Regime früher oder später an ihren Widersprüchen zugrunde gehen. Sie haben ein Problem, ihre Ressourcen effizient einzusetzen, weil Akteure in Wirtschaft und Verwaltung für Loyalität belohnt werden statt für Ehrlichkeit. Zudem könne ein Land ohne freie Meinungsäusserung nicht innovativ sein.

Vielleicht stimmen diese Theorien, vielleicht nicht. Vielleicht stimmen sie zu einem gewissen Grad, werden aber von der schieren Grösse Chinas wettgemacht. Egal: Eine vorsichtige Analyse sollte nicht mit dem Verschwinden des Regimes rechnen.

Beziehungen zu China sind durch eine politische Brille zu betrachten

In einem totalitären System ist jede Institution potenziell ein verlängerter Arm des Regimes, unabhängig davon ob sie eine offiziell staatliche Institution ist oder nicht. Das zwischenzeitliche Verschwinden eines der reichsten Chinesen – Tech-Unternehmer Jack Ma – zeigt, wer die Macht hat. Auch Privatunternehmen werden sich im Zweifelsfall vom Regime einspannen lassen. Freier Handel mit chinesischen Unternehmen ist somit immer auch freier Handel mit dem chinesischen Regime. Die Ziele eines totalitären Regimes sind in erster Linie politischer und nicht ökonomischer Natur. Deshalb ist jede Beziehung zu Institutionen in China in erster Linie politisch zu bewerten. Das heisst, politische Kriterien wie Macht und Abhängigkeit sind wichtiger als beispielsweise ökonomische Kriterien wie Effizienz und Profitabilität.

Mehr Informationen zum Thema, wie das chinesische Regime verschiedenste Beziehungen für seine politischen Zwecke nutzt, findest du in dieser Studie von Ralph Weber oder – etwas einfacher verdaulich – in diesem Interview zur chinesischen Einheitsfront.

Der Unterschied zum Kalten Krieg

Die aktuellen Spannungen zwischen dem chinesischen Regime und den USA werden oft als “neuer Kalter Krieg” beschrieben. Ich bin mir nicht sicher, wie hilfreich diese Vergleiche sind. Einen zentralen Unterschied zum Kalten Krieg möchte ich dennoch hervorheben: Im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und dem “Westen” hatte die Sowjetunion kaum Verbündete im Westen, ausser einigen rebellischen Studierenden und meist marginalen kommunistischen Parteien. Die politisch einflussreichen Wirtschaftsinteressen bekämpften den Kommunismus, weil sie sich in ihrer Existenz bedroht sahen.

Der Systemkonflikt zwischen dem totalitären chinesischen Regime und der liberalen Demokratie ist auf einer Wertebasis ebenso fundamental wie im Kalten Krieg. Bei den Interessen sieht es anders aus. Zumindest kurz- und mittelfristig profitieren Teile der politisch einflussreichen Wirtschaftsinteressen von guten Beziehungen mit dem chinesischen Regime. Das verändert die Machtverhältnisse in diesem Systemkonflikt zu Ungunsten der liberalen Demokratie.

Das Regime ist nicht China, Chinesinnen sind nicht das Regime

Eine der grössten Gefahren der aufkommenden China-Skepsis oder gar -Feindlichkeit ist das Abgleiten in Rassismus und stumpfen Nationalismus. Das ist immer falsch und in einem totalitären System umso mehr, weil die Chinesinnen und Chinesen oft die grössten Leidtragenden ihres Regimes sind. Wer das chinesische Regime kritisiert, sollte ebendies tun und nicht China als Ganzes verunglimpfen. Es mag im diplomatischen Umgang nötig sein, das chinesische Regime als alleinige Vertreterin Chinas zu behandeln. Medien und Politikerinnen sollten es aber vermeiden, von China oder “den Chinesen” zu sprechen, wenn sie die Handlungen des Regimes meinen.

Das sind einige der Annahmen, auf denen die Analyse in den nächsten Teilen der China-Serie basiert. In Teil zwei analysiere ich die China-Strategie der EU.