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Europa in der Welt Newsletter

Newsletter Nr 42: Aufrüstung für Handelskriege

Nach einer Neujahrspause kommt heute der erste Hauptstadt-Bericht im neuen Jahr. Zuerst gibt es ein Update zu aktuellen Gesetzesvorschlägen, die derzeit in Brüssel behandelt werden, dann gehe ich näher auf die handelspolitische Aufrüstung der EU ein. Zum Schluss gibt es einen Buchtipp.

News aus Brüssel

Digital Markets Act: Das Flaggschiff der Brüsseler Regulierungsoffensive gegen die Dominanz grosser Technologiekonzerne geht in die entscheidende Phase. Nachdem sich das europäische Parlament und die europäischen Wirtschaftsminister:innen je auf eine Version geeinigt haben, haben sich die Verhandlungsdelegationen des Parlaments und des Rats (zur Erinnerung: das ist die Vertretung der nationalen Regierungen) unter der Moderation der EU-Kommission zu einem ersten “Trilog” getroffen.

Ziel des Trilogs ist es, einen Kompromiss zu finden, der sowohl für das Parlament wie für die europäischen Regierungen tragbar ist. Worum es im Digital Markets Act genau geht und weshalb er für die Schweiz wichtig ist, habe ich im vergangenen Jahr hier niedergeschrieben. Die aktuelle Verhandlungsposition des Parlaments hat mein Euractiv-Kollege Luca Bertuzzi hier gut verdaulich zusammengefasst (hier auf deutsch übersetzt).


Kampf den Briefkastenfirmen: Im vergangenen Herbst zeigten die Pandora Papers einmal mehr auf, wie Kriminelle und die ökonomische und politische Elite vieler Länder “ihr” Geld in Briefkastenfirmen verstecken. Als Antwort darauf hat die EU-Kommission kurz vor Weihnachten einen Vorschlag für eine neue Richtlinie präsentiert, die darauf abzielt, dass Briefkastenfirmen nicht mehr zu Steuerzwecken eingesetzt werden können.

Gewisse Firmen müssten neu einen ökonomischen Substanztest bestehen, und beweisen, dass sie keine Scheinfirmen sind. Zudem sieht die Richtlinie vor, dass die Steuerbehörde eines Landes, Steuerbehörden anderer Länder dazu auffordern kann, gewisse Briefkastenfirmen zu untersuchen. Etwas genauer habe ich es hier beschrieben und die noch ausführlichere Erklärung der Kommission findest du hier.

Es ist erst ein Vorschlag, der noch durch das Parlament und die Mitgliedstaatsregierungen abgesegnet werden muss und im Prozess noch verändert werden kann. Expert:innen gehen davon aus, dass diese Beweispflicht auch bald als Kriterium für die ominöse “schwarze Liste” der Steueroasen eingesetzt wird. Spätestens dann dürfte dieses Thema auch in der Schweiz zu reden geben.

Taxonomie: In einer verzweifelt wirkenden Aktion versandte die EU Kommission ihren Vorschlag für die Taxonomie für nachhaltige Investitionen am Abend  des 31. Dezember, schliesslich hatte sie versprochen, diesen Vorschlag noch im Jahr 2021 vorzulegen. Die Taxonomie soll bestimmen, welche Investitionen in der EU als nachhaltig gelten sollen. Lange hatte die Kommission sich um eine Entscheidung gedrückt, ob Gas- und Nuklearenergie in diese Kategorie fallen sollen oder nicht, weil die Interessen der Mitgliedstaaten auseinandergehen.

Gas ist ein CO2-intensiver fossiler Energieträger, wird von einigen Staaten aber als notwendige Übergangsressource gehandelt, weil es sauberer sei als Kohle und die Infrastruktur später für Wasserstoff verwendet werden könnte. Atomenergie ist aus CO2-Sicht unbedenklich und eine Priorität der französischen Regierung, aber die deutsche Regierung und Grüne in Österreich und Luxemburg sind strikt gegen die Klassifizierung von Nuklearstrom als nachhaltig.

Der Streit geht also weiter, auch wenn die Kommission ihre Deadline knapp eingehalten hat. Für die Schweizer Finanzindustrie ist die Taxonomie relevant, weil sie sich zu einem globalen Standard in der Finanzindustrie durchsetzen könnte, sofern sie glaubwürdig genug ist.

Putinflation: Während die EU sich überlegt, die Rolle von Gas durch dessen Berücksichtigung in der Taxonomie mittelfristig auszuweiten, zeigt der russische Präsident gerade, welche Macht er dank Gas über die europäischen Portemonnaies hat – speziell im Winter. Russland liefert in diesem Winter viel weniger Gas als normalerweise nach Europa, was die Gaspreise steigen lässt. Verstärkt wird dies weil durch die wirtschaftliche Erholung auch die Nachfrage nach Gas steigt.

Obwohl die Energiepreise nur etwa einen Zehntel des europäischen Konsumentenpreisindex ausmachen, hat ihr drastischer Anstieg grosse Auswirkungen auf die Inflation in Europa. Im Dezember erreichte die jährliche Inflation 5%, was vor allem konservative Ökonomen in Deutschland dazu veranlasste, die Tiefzinspolitik der Zentralbank zu kritisieren.

Leider hat die europäische Zentralbank aber keine Macht über Vladimir Putin, der als Herr über die europäischen Gaspreise momentan viele Europäer:innen frieren lässt.

Aufrüstung für Handelskriege

Das multilaterale Handelssystem ist kaputt. Anstatt sich an die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) zu halten, verwenden Staaten den Handel wieder sichtbarerer als früher als geopolitisches Instrument.

Die USA erheben Strafzölle und blockieren den Streitschlichtungsprozess der WTO und die chinesische Regierung tut ohnehin was sie will, um die heimische Industrie zu schützen oder um andere politische Ziele durchzusetzen.

Aktuell setzt China Litauen unter Druck, da die litauische Regierung die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan intensivierte. Litauische Unternehmen können seither nicht mehr nach China exportieren und erhalten wichtige, vorbezahlte Lieferungen aus China nicht. Auch Unternehmen aus anderen europäischen Ländern wird von chinesischer Seite angeraten, keine Produkte aus Litauen zu verwenden, wenn sie nach China exportieren wollen.

Litauen selbst kann kaum etwas gegen die chinesischen Druckversuche unternehmen. Erstens ist Litauen zu klein, zweitens obliegt die Handelspolitik der EU. Wenn die EU heute aber Gegensanktionen ergreifen will, braucht sie hierfür die Zustimmung aller Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Das macht sie langsam und schwach.

Um diese Schwäche zu beheben, schlug die EU-Kommission im Dezember vor, dass sie selbst die Kompetenz erhalten soll, mit Gegenmassnahmen auf ökonomische Druckversuche von Drittstaaten zu reagieren (mehr dazu hier).

Der Kommissionsvorschlag wird in den kommenden Monaten vor allem unter europäischen Regierungen kontrovers diskutiert werden, denn die EU-Kommission versucht, sich aussenpolitische Kompetenzen zu verschaffen, welche die Nationalstaaten bisher für sich selbst bewahrt haben. Indem die Kommission den Vorschlag als handelspolitische statt aussenpolitische Massnahme definiert, müssen nicht alle sondern nur zwei Drittel der Regierungen dem Vorschlag zustimmen, damit er umgesetzt wird.

Zudem geht es nun nach langen Verzögerungen auch beim öffentlichen Beschaffungsgesetz vorwärts. Dieses Gesetz würde es der EU erlauben, Unternehmen aus Drittstaaten bei Ausschreibungen für öffentliche Beschaffungen zu benachteiligen, wenn diese Drittstaaten in ihrem Beschaffungswesen europäische Unternehmen benachteiligen.

Beide Instrumente sind noch nicht beschlossen, doch zeigt die Entwicklung auf eine EU, die sich der neuen Härte des internationalen Umfelds anpasst.

Die EU entwickelt diese Instrumente zwar als Antwort auf die Herausforderungen aus den USA und aus China, aber neue Kompetenzen tendieren dazu, ein Eigenleben zu entwickeln. Das sollte auch die Schweiz im Auge behalten.

Gegenüber der Schweiz hat die EU schon gezeigt, dass sie ihre Kompetenzen sehr grosszügig für sich selbst auslegen kann, wenn sie will. Die Horizon-Assoziierung bleibt der Schweiz zum Beispiel nach wie vor verwehrt, auch wenn kaum ein materieller Zusammenhang zum Binnenmarkt und zum Rahmenabkommen besteht. Die EU kreiert einen Zusammenhang, nicht weil sie es muss, sondern weil sie es kann.

Albanien und der Fall des Kommunismus

“Europa stand für eine gewisse Lebensart, die eher imitiert als verstanden wurde, eher absorbiert als gerechtfertigt. Europa war wie ein langer Tunnel, dessen Eingang mit grellen Lichtern und blinkenden Anzeigen beleuchtet, dessen Inneres jedoch dunkel und anfangs unsichtbar war. Als der Weg begann, kam es niemandem in den Sinn zu fragen wo der Tunnel enden würde, ob die Lichter ausfallen würden, und was sich auf der anderen Seite befand. Niemandem kam es in den Sinn, Taschenlampen mitzunehmen, oder Karten zu zeichnen, oder zu fragen, ob je jemand wieder aus dem Tunnel herauskommt, oder ob es nur einen Ausgang gibt oder mehrere, und ob alle den selben Weg hinaus nehmen. Stattdessen liefen wir einfach voran und hofften, der Tunnel würde hell bleiben in der Annahme, dass wir hart genug gearbeitet und lange genug gewartet hätten, genau wie wir in den sozialistischen Warteschlangen gewartet hatten – ohne Gedanken an die Zeit, die vergeht, und ohne die Hoffnung zu verlieren.”

Das war ein Ausschnitt aus “Free” von Lea Ypi. Sprachliche Holprigkeiten sind meiner Übersetzung aus dem Englischen geschuldet.

Im Buch beschreibt Ypi ihre eigene Kindheit im stalinistischen Albanien der 1980er-Jahre und ihre Jugend nach der Wende in den 1990er-Jahren. In einer geschickten Erählung verflechtet sie ihre eigene Desorientation als Mädchen, das an die kommunistische Propaganda geglaubt hatte und plötzlich merkt, dass ihre Eltern immer heimliche Regime-Gegner waren, mit der Desorientation der albanischen Gesellschaft nach dem Fall der kommunistischen Partei.

Sie zeigt auf, wie die ökonomische Schocktherapie, die dem Land von westlichen Ökonomen verordnet wird, gepaart mit enem politischen Machtvakuum ihre Familie und das Land zerreisst. Der radikale Übergang von Kommunismus zu Kapitalismus war in Albanien besonders dramatisch, dennoch dürften Echos von Ypis Geschiche auch in anderen osteuropäischen Staaten zu finden sein.

“Free” ist auf Englisch und bald auch in einer deutschen Übersetzung erhältlich.

Das war Hauptstadt-Bericht Nummer 42. Ich wünsche dir einen schönen Tag und sende herzliche Grüsse aus Brüssel,

János