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EU verstehen Europa in der Welt Schweiz

Die Zeitenwende und die Schweiz

Europa verändert sich. Wann merkt es die Schweiz?

Seit etwas mehr als zwei Wochen ist wieder Krieg in Europa. Putin betreibt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und deren Zivilbevölkerung. Schreckliche Bilder erreichen uns aus der Ukraine. 

Die Bilder erschüttern auch die EU. Und wenn die EU erschüttert wird, verändert sie sich. Aber noch nie ging es so schnell. Seit dem Start der Invasion sind erst achtzehn Tage vergangen und die EU ist kaum wiederzuerkennen. Plötzlich handelt sie entschieden, plötzlich nennt sie den Feind beim Namen, plötzlich liefert sie Waffen, plötzlich spricht sie über ein Schnellaufnahmeverfahren der Ukraine.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer „Zeitenwende“. Auch Bundesrätin Viola Amherd benutzte dieses Wort an einer Pressekonferenz des Bundesrats zu Beginn dieser Woche. Doch in welche Zeit wenden wir uns?

In diesem Hauptstadt-Bericht versuche ich einige wichtige Entwicklungen festzuhalten und spekuliere, was dies für Europa und die Schweiz bedeutet. Es sind bestenfalls begründete Spekulationen, denn vieles hängt vom weiteren Verlauf des Kriegs ab und da blicke ich nicht durch.

Hier ein kleiner Überblick zu den Themen des Hauptstadt-Berichts, falls du direkt zu jenen Themen springen willst, die dich interessieren:

  • Entschlossenes Handeln in der Krise
  • Geopolitische Naivität
  • Europäische Souveränität
  • Macrons Europa
  • Mythos-Bildung
  • Et tu, Helvetia?

Entschlossenens Handeln in der Krise

Innert Kürze einigten sich die europäischen Staatschef*innen auf ein gemeinsames Vorgehen. Innert einer Woche beschlossen sie drei Sanktionspakete. Selbst die Putin-nahe Regierung Ungarns verzichtete auf ihr Veto. 

Wie schon nach der ersten Covid19-Welle vor zwei Jahren entpuppte sich der Europäische Rat (das Gremium der 27 Staatschef*innen) als kollektives Staatsoberhaupt, nur ging es viel schneller als während der Pandemie. Und es sind nicht bloss Deutschland und Frankreich, die den Takt vorgeben. Gerade in dieser Krise hat sich der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki für eine starke europäische Antwort eingesetzt.

Es wird immer klarer, dass der Europäische Rat die Institution ist, die mit technischer Unterstützung der EU-Kommission entscheidet, wie Europa auf Krisen reagiert. Die Schweiz ist, selbstverständlich, nicht dabei. Die Schweizer Regierung musste die Sanktionen später schlicht nachvollziehen.

Das Foto unten habe ich am Abend des 25. Februars aufgenommen. Es zeigt das Gebäude, in dem die europäischen Regierungschef*innen zu jenem Zeitpunkt die Reaktion Europas auf das vielleicht bedeutendste Ereignis der letzten dreissig Jahre diskutierten und beschlossen. Dass in diesem Moment keine Schweizerin mit am Tisch sass, fühlte sich irgendwie unsouverän an.

Geopolitische Naivität

Der Krieg hat die EU gezwungen, einent Teil ihrer geopolitische Naivität abzuschütteln. Ein Grossteil dieser geopolitischen Naivität ging auf das Konto Deutschlands, das sich durch eine Mischung aus berechtigter Kriegsscham, kommerziellen Interessen und bequemem NATO-Schutz ein realitätsfernes geopolitisches Wunschdenken angeeignet hatte.

Selbst nachdem Putin 2014 auf der Krim und in der Ostukraine bewiesen hatte, dass auf sein Wort kein Verlass ist und dass er bereit ist, seine Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen, beharrte Deutschland auf dem „politischen Dialog“. Deutschland hielt an der Gaspipeline Nordstream 2 fest und der offensichtlich korrupte Ex-Kanzler und Putin-Intimus Gerhard Schröder wurde von deutschen Medien wiederholt als Russland-Experte interviewt.

Das hat sich nun radikal geändert. Kaum ist Russland einmarschiert, kündigte Deutschland die Sistierung von Nordstream 2 an. Am vierten Tag nach Kriegsbeginn beschloss die deutsche Regierung, einmalig mehr als €100 Milliarden in die eigene Verteidigung zu investieren. Das ist mehr als doppelt so viel als das jährliche deutsche Verteidigungsbudget. 

Das Geld soll nicht nur in die deutsche, sondern auch die europäische Rüstungsindustrie fliessen und Projekte wie den Eurofighter voranbringen. Am informellen Gipfel der EU-Staatschef*innen vom 10. Und 11. März sprach sich die oberste Institution der EU für signifikant mehr gemeinsame Verteidigungsausgaben aus. Das wird die europäische Verteidigungsindustrie näher zusammenführen und gegenseitige Abhängigkeiten schaffen, die eine stärkere verteidigungspolitische Zusammenarbeit nicht nur erleichtern, sondern notwendig machen.

Die Wichtigkeit von Verteidigungs- und Sicherheitspolitik erkannten bis vor Kurzem vor allem Frankreich und die osteuropäischen Staaten wie Polen und die baltischen Staaten. Dennoch schienen Frankreich und Polen aneinander vorbeizusprechen. Frankreich baut auf „strategische Autonomie“, die Europa weniger NATO-abhängig macht, während Polen und die baltischen Staaten fürchten, dass weniger NATO-Abhängigkeit auch weniger NATO-Schutz bedeutet. Zudem zeigte sich Macron in der Vergangenheit lange offen für eine politische Zusammenarbeit mit Russland, was viele osteuropäische Staaten vor den Kopf stiess.

Diese Konflikte zwischen Frankreich und Osteuropa werden sich nicht in Luft auflösen. Aber eine deutsche Regierung, die pro-europäisch und NATO-zugewandt ist und Verteidigungspolitik plötzlich auch als Priorität sieht, könnte eine produktive Vermittler-Rolle einnehmen.

Europäische Souveränität

Strategische Autonomie beschränkt sich nicht nur auf Verteidigung, sondern bedeutet auch ökonomische Unabhängigkeit. Die EU importiert bis zu 40% ihres Gasbedarfs aus Russland, weshalb Öl und Gas bisher aus den EU-Sanktionen gegenüber Russland ausgeschlossen sind. 

Ein Stopp der Energielieferungen aus Russland ist aber weiterhin eine mögliche Entwicklung des aktuellen Kriegs. Deshalb kündigten die EU-Staatschef*innen am Gipfel der letzten Woche grosse Investitionen in andere Energiequellen und in die europäische Energieinfrastruktur an. Auch die Landwirtschaft wird betroffen sein. 

Weil die EU-Staaten sehr unterschiedlich vom Krieg und den Sanktionen betroffen sind, sind neue Kompensationsmechanismen innerhalb der EU möglich, ähnlich wie nach der Covid-Pandemie.

Strategische Autonomie ist das EU-Schlagwort der letzten Monate und Jahre, doch es wird immer mehr mit Inhalt gefüllt. Vor wenigen Wochen zum Beispiel präsentierte die EU-Kommission einen „Chips-Act“, der eine EU-Halbleiterindustrie befördern soll. Der Vorschlag beinhaltet auch die Möglichkeit, den Export dieser wichtigen Produkte zu unterbinden.

Zudem befinden sich zurzeit mehrere handelspolitische Gesetzesvorschläge in verschiedenen Stufen des Gesetzgebungsprozesses. Alle zielen darauf ab, die EU auch im Welthandel wehrhafter zu machen und sie unterminieren das bisherige Welthandelssystem, auf das auch die Schweiz baut.

Die Vorschläge deuten auf eine stärkere politische Lenkung der europäischen Wirtschaft hin. Das sind gute Neuigkeiten, denn ohne stärkere politische Einflussnahme werden gewisse gesellschaftliche Herausforderungen nicht zu meistern sein. Gleichzeitig ist die Politisierung der EU-Wirtschaft eine schlechte Neuigkeit für Drittstaaten wie die Schweiz, die einen möglichst freien Zugang zum EU-Markt wollen, sich aber nicht politisch daran binden wollen.

Macrons Europa

Wenige Monate nach dem Abgang Angela Merkels hat sich Emmanuel Macron definitiv als Führungsfigur in Europa etabliert. Seit seiner Wahl pochte er darauf, dass Europa wieder lernen muss, Machtpolitik zu verstehen und anzuwenden, während sich Deutschland für kurzfristige kommerzielle Interessen einsetzte und politische Fragen so weit wie möglich ignorierte.

Macrons Lesart des politischen Moments hat sich nun entscheidend durchgesetzt. Das heisst nicht, dass kommerzielle Interessen keine Rolle mehr spielen, aber sie werden nicht mehr unabhängig von politischen Überlegungen verfolgt.

In Frankreich hat Putins Angriffskrieg zudem dazu geführt, dass Macrons Wiederwahl als Präsident Frankreichs noch wahrscheinlicher wurde. Schon vor dem russischen Angriff schien Macron die Mitte erfolgreich zu besetzen, während der linke Melanchon in den Umfragen nicht vom Fleck kam und das grosse rechtspopulistische Lager sich gegenseitig im Weg stand. 

Nun wird ihnen allen ihre relative Putin-Nähe zum Verhängnis. Marine Le Pen musste Millionen von Flyern einstampfen, weil sie darauf ein Foto von ihr und Putin abgedruckt hatte und auch Eric Zemmour fiel in den Umfragen zurück.

Wenn Macron von den Französinnen und Franzosen eine zweite Amtszeit erhält, gibt ihm das die Möglichkeit, Europa für weitere fünf Jahre seinen Stempel aufzudrücken. Das heisst mehr Zentralisierung, mehr Machtpolitik und wenig Geduld für Schweizer Spezialwünsche. Wenig hilfreich ist dabei, dass sich die Schweiz in ihrer Kampfjetbeschaffung kürzlich gegen ein französisches oder europäisches Produkt entschieden und die französische Regierung so vor den Kopf gestossen hat.

Mythos-Bildung

Der Krieg in der Ukraine hat das Potenzial für einen europäischen Mythos. Der Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen den scheinbar übermächtigen Agressor, die Führung des ukrainischen Präsidenten Zelenskyys, der bisher fast immer den richtigen Ton getroffen hat und mit seinem Kabinett im umkämpften Kiew bleibt, der Ursprung dieses Kriegs in den Euromaidan-Protesten von 2014, und der offensichtliche moralische Bankrott des Putin-Regimes erzählen eine starke Geschichte.

Menschen sterben für ihre nationale Unabhängigkeit und für eine europäische Zukunft. Im Militär-Grün gekleidet sagt der ukrainische Präsident per Videocall direkt zu den anderen europäischen Staatschefs, es könne das letzte Mal sein, an dem sie ihn lebendig sehen würden. In einer improvisierten Zeremonie im belagerten Kiew unterzeichnet seine Regierung ein Beitrittsgesuch zur EU.

Die EU, die eigentlich darauf ausgerichtet ist, das Drama aus der Politik zu nehmen, wird Teil eines grossen Dramas.

Wir wissen noch nicht, wie das Drama ausgehen wird und wie es sich auf die Erzählung auswirkt, die sich die Europäerinnen und Europäer über die EU erzählen. Vieles hängt vom weiteren Verlauf des Kriegs und von der Unterstützung durch die EU ab. 

Angesichts der brutalen Realität des Krieges scheint diese Erzählung aktuell nicht relevant, aber für die Zukunft der EU wird sie entscheidend sein. 

Bisher beschränkte sich die Erzählung der EU auf die Überwindung eines Kriegs, der für die Mehrheit der Europäerinnen keine erlebte Realität mehr ist, sondern ein Kapitel aus dem Geschichtsbuch wie viele andere. Zudem erinnern die Europäer*innen den zweiten Weltkrieg auf verschiedene Art und Weise. Die EU zog ihre Legitimation aus dieser Überwindungserzählung sowie aus den konkret fühlbaren Resultaten, die sie für ihre Bürgerinnen erzielte.

Der Aufschwung der EU-Skeptiker*innen in den 2010er-Jahren kann auch als Zeichen der Schwäche dieser Legitimation gewertet werden. Der zweite Weltkrieg war zu weit weg, eine neue Bedrohung noch nicht wirklich fassbar, und die EU brachte dank ihrer katastrophalen Wirtschaftspolitik keine guten Resultate. 

Nun hat Europa plötzlich wieder Helden, es hat einen gemeinsamen Feind und seit der Pandemie scheint die EU auch in der Lage, wirtschaftspolitisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Alles ändert sich. 

Was sich nicht ändert

Trotz aller Einigkeit und des überraschend schnellen Vorgehens hat die EU noch keine Entscheidung getroffen, die ihr selbst wirtschaftlich wirklich wehtun könnte. Die EU gibt sich als grosse Unterstützerin der Ukraine, aber die tatsächliche materielle Unterstützung bleibt verhalten.

Insgesamt hat die EU bisher Militärhilfen von insgesamt einer Milliarde Euro für die Ukraine gesprochen. Gleichzeitig kauft sie täglich Erdöl, Kohle und vor allem Erdgas aus Russland im Wert von mehreren hundert Millionen Euro. Dieses Geld stützt den russischen Rubel und kann von der russischen Regierung für die Finanzierung ihrer Kriegsmaschinerie benutzt werden. Nach wie vor hinkt die Tat der europäischen Rhetorik nach.

Auch die innereuropäischen Spannungen werden durch diese Extremsituation nicht plötzlich gelöst. Die polnische Regierung versucht zum Beispiel gerade, die grosse Solidarität der polnischen Zivilbevölkerung als Beweis dafür auszulegen, dass Polen eine korrekte Migrationspolitik verfolgt, und versucht, damit von ihren eigenen Rechtsstaatlichkeitsproblemen abzulenken. 

Die deutsche Regierung sorgt sich unterdessen um den sozialen Frieden weil die Spritpreise steigen. Das reale Problem steigender Kosten könnte zumindest für Tieflohn-Haushalte natürlich mit Umverteilungsmassnahmen behoben werden. Dass der politische Wille in Deutschland dafür jedoch noch nicht vorhanden ist, zeigt, dass die Welt noch nicht kopfsteht.

Et tu, Helvetia?

In der Schweiz wird gross, wer klein denkt. Nirgends zeigt sich das besser als im Bundesrat, der ohne Strategie und ohne Gefühl für den geopolitischen Moment durch die Untiefen der Schweizer Konkordanz manövriert. 

Schon am ersten Tag des Kriegs schaffte es die Schweiz, den Zorn der EU auf sich zu ziehen, da sie die Sanktionen der EU nicht vollständig übernahm. Wenige Tage später gab der Bundesrat nach und zog mit der EU gleich. Unter Druck handelt die Schweiz nicht souverän.

Die Schweiz sieht sich als Vorzeige-Demokratie, nimmt aber nur verhalten Stellung, wenn die demokratische Ukraine von einem Diktator überfallen wird. Die stärkste Regierungspartei ruft dabei am stärksten zur Zurückhaltung auf und ihre obersten Exponenten bewundern den Diktator. Die anderen Regierungsparteien finden das irgendwie unappetitlich, aber in die Regierung lässt man die SVP trotzdem.

Die EU fragt sich auch, weshalb 80% des russischen Rohstoffhandels über den Schweizer Finanzplatz abgewickelt werden, weshalb so viele Oligarchengelder da versteckt sind, und weshalb Putin da seine Familie verstecken kann. Die Schweiz wirkt gerade wie ein gebirgiges Gerhard Schröder im Herzen Europas. 

Nur wenige Tage vor Kriegsbeginn hatten die Suisse-Leaks das europäische Parlament dazu bewegt, später im Frühling eine Sitzung zur Rolle der Schweiz bei der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche abzuhalten. Selbst die konservative, christdemokratische Fraktion plädiert nun dafür, die Schweiz wieder auf die schwarze Liste der Steueroasen aufzunehmen.

Dem Bundesrat scheint das politische Gefühl für die Situation zu fehlen, oder es ist ihm egal. Am 25. Februar – es war schon klar, dass der Krieg in der Ukraine die EU erschüttern und verändern würde – präsentierte er die Stossrichtung seines Verhandlungspakets für die Beziehungen mit der EU.

Der Bundesrat präsentierte einen sektoriellen Ansatz. Das heisst die institutionellen Fragen zu Rechtsübernahme und Streitschlichtung sollen in jedem Marktzugangsabkommen einzeln geregelt werden. Die Schweiz versucht also, ihr europapolitisches Modell aus der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre beizubehalten. Ob die EU der 2020er-Jahre da mitmacht, ist mehr als fraglich.

Wenn man sich die EU als grossen Marktplatz vorstellt, so versucht die Schweiz gerade, sich den Zugang zu jedem Marktstand einzeln auszuhandeln. Gleichzeitig baut die EU eine politische Mauer nach der anderen um ihren Marktplatz und es ist unklar ob die Schweiz inner- oder ausserhalb dieser Mauern sein will. 

Drinnen oder draussen? Das ist die grosse Frage, die sich der Schweiz stellt, und die der Bundesrat nicht beantworten will und – vielleicht – nicht kann. Früher oder später wird diese Frage jedoch beantwortet werden, entweder von der Schweiz oder für die Schweiz.

Das war Hauptstadt-Bericht Nummer 43. Ich wünsche dir einen schönen Tag und sende herzliche Grüsse aus Brüssel,

János

PS: Falls du wöchentlich auf dem Laufenden bleiben willst zu den Entwicklungen in der europäischen Wirtschaftspolitik empfehle ich den “Economy Brief”, den ich jeden Donnerstag für EURACTIV schreibe. Hier kannst du ihn abonnieren.