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Klima Wirtschaft und Finanzen

Buchhaltung für den Planeten

Wie die EU Taxonomie für nachhaltige Geschäftspraktiken helfen soll, Investitionen für den Umweltschutz zu mobilisieren. Auch in der Schweiz.

Buchhaltung für den Planeten

Wer den Überblick über ein grosses System behalten will, braucht eine Buchhaltung. 

Der Weg zur planetaren Buchhaltung

Als das Reich Karls des Grossen sich immer weiter ausdehnte, verlangte er eine systematische Berichterstattung von seinen Besitztümern, um den Überblick zu wahren. Als die italienischen Handelsstädte im Hochmittelalter zu florieren begannen, wurde die doppelte Buchführung entwickelt. Als sich im Zuge der Industrialisierung Aktienmärkte entwickelten, wurde die korrekte Buchführung gesetzlich vorgeschrieben. Und nachdem 2008 das Finanzsystem zusammengebrochen war, weil Banken nach Jahrzehnten ungebändigter Finanzmärkte keinen Überblick mehr hatten über die Risiken in ihren Bilanzen, wurden ihnen umfassende, zusätzliche Buchhaltungs- und Reportingpflichten auferlegt.

Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat der Einfluss des Menschen auf den Planeten stark zugenommen. Die Wissenschaft spricht vom “Anthropozän” – dem Zeitalter des Menschen – weil der Mensch sich zum grössten Einflussfaktor der biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde emporgearbeitet hat. Heute ist der Planet ein durch Menschen geführtes System – ob wir es wollen oder nicht. Und wenn dieses System nicht völlig aus dem Ruder laufen soll, brauchen wir eine Buchhaltung für den menschlichen Einfluss auf den Planeten.

50 Shades of Green

Einige Unternehmen weisen ihre Treibhausgasemissionen heute schon im Geschäftsbericht aus. Aber die tatsächlichen Auswirkungen der Wirtschaft auf die Umwelt sind viel umfassender und komplexer als der CO2-Ausstoss: Die Biodiversität geht zurück, Wasser und Böden werden vergiftet, knappe Ressourcen werden aufgebraucht. Einige Unternehmen gehen in ihrem Corporate Social Responsibility Reporting auf diese Themen ein. Dabei lassen sich Fakten und Marketing oft nur schwer unterscheiden. Zudem sind die Zahlen nicht vergleichbar.

Eine Umweltbuchhaltung benötigt eine umfassende, gemeinsame Sprache. Und genau das will die EU mit ihrer EU Taxonomie liefern.

Die EU Taxonomie ist ein Klassifizierungssystem, das bestimmt, welche wirtschaftlichen Tätigkeiten nachhaltig sind und welche nicht. Anhand dieser Klassifizierung können Unternehmen bestimmen, wie nachhaltig ihre Geschäftspraktiken sind. Banken können auf die Taxonomie zurückgreifen, wenn sie nachhaltige Finanzprodukte verkaufen. Finanzprodukte dürfen nur noch dann nachhaltig genannt werden, wenn die damit finanzierten Geschäftstätigkeiten den Ansprüchen der EU Taxonomie entsprechen.

Im vergangenen Sommer verabschiedete die EU die Taxonomie-Regulierung. Sie legte sechs Klimaziele fest:

  1. Klimaschutz
  2. Anpassung an den Klimawandel
  3. Nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser und mariner Ressourcen
  4. Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft
  5. Vermeidung und Kontrolle von Umweltverschmutzung
  6. Schutz und Wiederherstellung von Biodiversität und Ökosystemen

Wenn eine wirtschaftliche Aktivität als nachhaltig gelten soll, muss sie zur Erreichung eines dieser Klimaziele beitragen, ohne ein anderes wesentlich zu beeinträchtigen. Der Bau einer Solaranlage wäre zum Beispiel nicht umweltfreundlich, wenn dafür zuerst ein unter Schutz stehender Wald gerodet würde.

500 Pages of Green

Aber sechs Ziele sind noch keine Taxonomie. Am 21. April veröffentlichte die EU-Kommission deshalb die detaillierten Bedingungen, unter denen eine Geschäftstätigkeit in verschiedenen Sektoren als nachhaltig gilt. Die zwei veröffentlichten Dokumente umfassen zusammen 500 Seiten und behandeln erst die ersten beiden der sechs Klimaziele. Die Kriterien für die restlichen vier Ziele werden gegen Ende Jahr erwartet. 

Die kürzlich veröffentlichten Kriterien definieren zum Beispiel, unter welchen Bedingungen ein Forstbetrieb als klimaschützend gilt. Hier kannst du es nachlesen, wenn du es genauer wissen möchtest.

Die ursprüngliche Motivation hinter der EU Taxonomie war es, dem Wildwuchs angeblich nachhaltiger Finanzprodukte Einhalt zu gebieten. Eine vertrauenswürdige, weil evidenzbasierte Definition für nachhaltige Geschäfte sollte als EU-weiter Standard gelten. Bald wurde jedoch klar, dass diese Definition auch für die Lenkung von Staatsausgaben und Investitionen der EU nützlich wäre. Das hätte direkte finanzielle Folgen für viele Unternehmen und schreckte einige Interessengruppen auf.

Deshalb machten einige Länder und Industrielobbys im Vorfeld der Veröffentlichung Druck, Erdgas und Atomkraft in der Taxonomie als nachhaltige Energiequellen zu definieren. Umweltschutzverbände wehrten sich. Die EU-Kommission ging dem Streit aus dem Weg, indem sie Erdgas und Atomkraft in der Taxonomie unerwähnt liess. Der Streit ist damit nicht gelöst sondern erst einmal vertagt. Mit einer expliziten Entscheidung für oder gegen Gas und Atomkraft hätte die EU-Kommission ein Veto des EU-Rats oder des Parlaments riskiert. Ein Veto würde die gesamte Taxonomie weiter verzögern.

Bankensorgen

Auch ohne Veto drängt die Zeit. Schon im Jahr 2022 sollen Banken ihr Reporting für das laufende Jahr 2021 an der Taxonomie orientieren, die noch gar nicht vollständig ist. Die EU-Kommission wird sich zu Beginn der Umsetzung wohl kulant zeigen. Aber die Banken haben noch weitere Sorgen. 

Um herauszufinden, ob ihre Investitionen und Darlehen nachhaltig sind, müssen die Banken alle für die Taxonomie relevanten Daten über ihre Firmenkunden sammeln. Viele dieser Firmen sind jedoch noch nicht verpflichtet, ihre Taxonomie-Daten zu erheben oder zu veröffentlichen. Die Banken wissen also nicht, woher sie die Daten über die Unternehmen holen sollen, wenn die Unternehmen sie selbst noch nicht freigeben.

Diese dürften Probleme sich mit der Zeit legen, wenn auch die Reporting-Richtlinien für Firmen im Zuge der EU Taxonomie überarbeitet werden. Und dass eine Buchhaltung für den Planeten komplexer ist als der Buchhaltungskurs im ersten Semester BWL, sollte eigentlich nicht überraschen.

Der Brüssel Effekt

Die EU hofft, dass sich ihre Taxonomie weltweit als Standard für nachhaltige Investitionen durchsetzt. Banken, die in der EU ein nachhaltiges Finanzprodukt verkaufen wollen, müssen sich an die Taxonomie halten. Die Banken werden sich dafür einsetzen, dass sie in anderen Märkten nicht allzu unterschiedliche Standards erfüllen müssen. So könnten andere Märkte der Brüsseler Regulierung folgen. Mehr zum sogenannten Brüssel Effekt findest du in diesem Beitrag.

Durch den Brüssel Effekt könnte die EU Taxonomie auch in die Schweiz kommen. Die Taxonomie betrifft indes nicht nur Banken. Auch Schweizer Unternehmen könnten beginnen, ihr Reporting nach der EU Taxonomie zu richten. Denn die Übernahme der EU Taxonomie dürfte auch den Schweizer Unternehmen den Zugang zu Kapital erleichtern. Zudem würden sie eher von öffentlichen Aufträgen in der EU profitieren, die an Nachhaltigkeitsziele gebunden sind.

Am ehesten wird sich die EU Taxonomie durchsetzen, wenn sie in breiten Kreisen als gute, evidenzbasierte Nachhaltigkeitsdefinition anerkannt wird und gleichzeitig in der Praxis umsetzbar ist. In diesem Fall kann die EU Taxonomie als Qualitätslabel für Finanzprodukte global dazu beitragen, die Wirtschaft in eine umweltfreundlichere Richtung zu lenken.

Buchhaltung allein bringt noch nichts

Aber nur weil es bald ein neues, komplexes System gibt, um die Auswirkungen der Wirtschaft und einzelner Unternehmen auf die Umwelt zu bestimmen, ist noch nichts gewonnen. Ohne Mut zu tiefgreifenden Veränderungen und schwierigen Entscheiden bleibt die Taxonomie eine technokratische Trockenübung. Dass die EU-Kommission sich nicht in der Lage sah, Erdgas als klimaschädlich zu taxieren, zeigt, wie schwierig die Entscheide politisch nach wie vor sind. Trotzdem werden sie nötig sein.

Der Planet kümmert sich nicht um eine möglichst raffinierte Buchhaltung, solange sie lediglich seinen Untergang dokumentiert.

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