Das Ringen um das Rahmenabkommen zwischen der schweizerischen Politik und der EU hat schon das eine oder andere Opfer gefordert. Die EU entzog der Schweiz die Börsenäquivalenz. Im Gegenzug beschloss das schweizerische Parlament, die Kohäsionsmilliarde vorerst nicht auszuzahlen.
Die Kohäsionsmilliarde ist ein Rahmenkredit von ca. 1.3 Milliarden Franken. Im Zeitraum von zehn Jahren finanziert die Schweiz damit Projekte in den jüngeren, osteuropäischen EU-Staaten. Die Schweiz beteiligt sich durch die Kohäsionsmilliarde an der Strukturpolitik der EU. Diese hat zum Ziel, die Wirtschaften aus dem ehemaligen Ostblock zu modernisieren und an westeuropäische Standards anzugleichen. Die Beteiligung an der Strukturpolitik ist ein Teil des Zutrittspreises zum europäischen Binnenmarkt, den auch die Schweiz bezahlt.
Im Jahr 2019 stellte die Schweiz die Zahlungen ein, bis Diskriminierungen wie die Nichtgewährung der Börsenäquivalenz behoben sind. Das zeigte bisher keine Wirkung. Kein Wunder: Die EU verhandelt gerade über einen mehrjährigen Finanzrahmen von mehr als 1000 Milliarden und ein Wiederaufbaupaket von 750 Milliarden. Die schweizerische Milliarde hat weder Droh- noch Lockpotenzial.
Norwegen macht es besser.
Als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) aber nicht der EU leistet Norwegen ebenfalls einen Beitrag an die europäische Strukturpolitik. Wie ein Politico-Artikel aufzeigt, benutzt Norwegen seinen Kohäsionsbeitrag seit 2014 ebenfalls als Druckmittel. Nicht pauschal gegen die EU sondern gezielt gegen einzelne Länder mit Rechtsstaatlichkeits-Problemen. Seit 2014 zahlt Norwegen keine Beiträge mehr an die ungarische Regierung unter Viktor Orbán, weil diese eine stärkere Kontrolle über das Geld ausüben wollte. 214 Millionen Euro wurden deswegen mittlerweile schon zurückgehalten.
Im Februar dieses Jahres hielt Norwegen 65 Millionen Euro zurück, die für das polnische Justizsystem eingeplant waren. Seit die polnische Regierung massenweise Richterinnen frühpensionieren liess, um regierungstreue Richterinnen einzusetzen, ist die richterliche Unabhängigkeit in Polen nicht mehr gewährleistet.
Im September entzog Norwegen jenen polnischen Städten, die sich vor einem Jahr zu “LGBT-frei Zonen” erklärt hatten, die Finanzierung. Wieder geht es um Millionenbeträge.
Paradoxerweise macht Norwegen als Nicht-EU-Mitglied genau das, was eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten, der EU-Kommission und des europäischen Parlaments gerne tun würde. Es bindet Unterstützungsgelder an rechtsstaatliche Kriterien. In der EU konnten sich die ungarische und die polnische Regierung bisher dank ihres Vetos erfolgreich gegen die sogenannte Rechtsstaatlichkeitsklausel wehren. Aber da Norwegen selbst bestimmt, wohin seine Kohäsionsbeiträge fliessen, haben Polen und Ungarn keinen Hebel, um die Beiträge zu erzwingen.
Natürlich könnte die EU-Kommission Norwegen rügen, weil es nicht den ganzen Kohäsionsbeitrag auszahlt. Aber weil eine Mehrheit in der EU-Kommission das politische Ziel Norwegens teilt, wird die EU-Kommission wahrscheinlich nicht protestieren.
Die Schweiz könnte angesichts des norwegischen Beispiels ihre wirkungslose Vergeltungspolitik mit der Kohäsionsmilliarde überdenken. Mit einem gezielten Einsatz (oder Nichteinsatz) ihrer Kohäsionsmilliarde wäre es auch der Schweiz möglich, sich für die Rechtsstaatlichkeit in Europa einzusetzen. Sie würde die EU bei einer Aufgabe unterstützen, die der EU aufgrund ihrer Entscheidungsprozesse so schwer fällt.
Die Diskussion um das Rahmenabkommen wird durch so einen Schritt der Schweiz nicht magisch deblockiert. Aber die Schweiz kann damit ein Zeichen des Goodwills setzen.