Am 29. November 2020 stimmte die schweizerische Stimmbevölkerung mit 50.7% der Konzernverantwortungsinitiative (KVI) knapp zu. Die Initiative gilt dennoch nicht als angenommen, sie scheiterte am Ständemehr.
Die KVI ist tot. Aber ihr Geist lebt weiter und könnte die Wirtschaftsverbände, die eine schrille Kampagne gegen die KVI fuhren, in den Hintern beissen.
Menschenrechte und Umweltstandards
Kleine Gedächtnis-Auffrischung: Die KVI wollte eine Sorgfaltspflicht für international tätige Schweizer Unternehmen einführen. Die Sorgfaltspflicht hätte die Unternehmen gezwungen dafür zu sorgen, dass Menschenrechte und Umweltstandards auch in durch sie kontrollierten Unternehmen im Ausland eingehalten werden. Wenn Menschenrechte dennoch verletzt würden, hätte das schweizerische Unternehmen unter gewissen Bedingungen haftbar gemacht werden können.
Wieso beisst der Geist der KVI nun die Wirtschaftsverbände vielleicht doch noch in den Hintern?
Auf EU-Ebene ist ein Lieferkettengesetz in Vorbereitung, das viel weiter gehen könnte als die schweizerische KVI. Sollte die Regulierung zustandekommen, wird die Schweiz sie möglicherweise übernehmen müssen. Der Grund dafür ist, dass die EU sich ihre Regeln nicht von anderen Teilnehmerinnen an ihrem Binnenmarkt untergraben lassen will. Mehr dazu in diesem Beitrag zum Brüssel Effekt und in diesem Beitrag zum “Level Playing Field”.
Unter dem Arbeitstitel “Initiative für nachhaltige Corporate Governance” sammelt die EU-Kommission noch bis zum 8. Februar 2021 in einer öffentlichen Konsultation Rückmeldungen. Die öffentliche Konsultation ist vergleichbar mit dem schweizerischen Vernehmlassungsverfahren.
Ich bin das Volk!
Weil die Regulierung sehr wahrscheinlich auch die Schweiz betreffen wird, habe ich mir erlaubt, im Namen der Mehrheit der schweizerischen Stimmbevölkerung an der öffentlichen Konsultation teilzunehmen.
Beim Durchscrollen der Konsultationsfragen fällt auf, wie viel weiter die Initiative der Kommission geht als die schweizerische Volksinitiative. In der “Initiative für nachhaltige Corporate Governance” geht es nicht nur um die Sorgfaltspflicht und die Haftung wie in der KVI. Es geht auch um die persönliche Verantwortung, Vergütung und die Zusammensetzung der Unternehmensleitung sowie um die Regulierung von Aktienrückkäufen (ein beliebtes Bonus-Maximierungswerkzeug für Manager). Die KVI sieht wie eine sehr schlanke Regulierung aus im Vergleich zu dem Paket, das hier auf die Schweiz zukommen könnte.
Als verantwortungsbewusster, selbsternannter Stimmvolksvertreter beantwortete ich natürlich nur jene Fragen, auf die der Initiativtext der Konzernverantwortungsinitiative eine Antwort bereithält. (Es sind die Fragen 1-3 in Abschnitt I und Fragen 14 – 19 in Abschnitt III, falls du ebenfalls an der Konsultation teilnehmen willst.)
Frage 14 des Fragebogens behandelt die Definition der Lieferkette. Wie weit soll die Sorgfaltspflicht und die daran gekoppelte Haftung gehen? Hier geht der Vorschlag der EU-Kommission sogar weiter als die KVI es wollte. Beide schlagen zwar vor, dass alle Geschäftsbeziehungen unter die Sorgfaltspflicht fallen sollen. Aber die KVI schränkt die Haftungsbestimmungen auf Firmen ein, die durch das schweizerische Unternehmen kontrolliert wurden. Diese Einschränkung ist bei der EU nicht ersichtlich. Als Vertreter der Stimmbevölkerungsmehrheit schlug ich hier eine leichte Einschränkung der Definition vor. Bitte gerngeschehen, liebe Wirtschaftsverbände!
Wie die KVI doch noch in die Schweiz kommt.
Besonders interessant aus einer Schweizer Perspektive ist die Frage 17: “Sollten die Vorschriften für die Sorgfaltspflicht Ihrer Ansicht nach auch für bestimmte Unternehmen aus Drittstaaten gelten, die nicht in der EU niedergelassen sind, aber (bestimmte) Tätigkeiten in der EU ausüben?”
Wenn die EU diese Frage mit Ja beantwortet, werden schweizerische Unternehmen sich ebenfalls an die Regulierung halten müssen, wenn sie in der EU Geschäfte machen wollen. Und es gibt kaum Schweizer Firmen, die das nicht wollen. Das heisst: Die KVI könnte via EU-Regulierung in der Schweiz eingeführt werden.
Als Vertreter der Mehrheit der schweizerischen Stimmbevölkerung beantwortete ich diese Frage also mit Ja.
Es ist gut möglich, dass die EU die Frage 17 gleich beantworten wird. Bei diesem Punkt sind sich EU-Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen nämlich einig. Die NGOs befürworten die extraterritoriale Wirkung der Regulierung, weil sie einen möglichst grossen Geltungsbereich der Regulierung erreichen möchten. Die EU-Unternehmen befürworten die extraterritoriale Wirkung, weil sie gegenüber ihren Mitbewerbern ausserhalb der EU nicht benachteiligt sein wollen. “Wenn wir schon reguliert werden, dann bitte auch die anderen.”
Wie genau die Umsetzung in der Schweiz aussehen wird, ist noch offen. Die einfachste Lösung wäre, die Schweiz würde eine von der EU als gleichwertig anerkannte Regulierung einführen. Mühsamer wäre es, wenn jedes Unternehmen der EU einzeln beweisen müsste, dass es die Sorgfaltspflicht einhält. Es kann also sein, dass die Wirtschaftsverbände bald schon in Bern für eine Regulierung lobbyieren werden, die sie bis vor kurzem noch mit schrillen Tönen bekämpften.
Schweizer Vorbild oder Nachvollzug?
Bei einer Annahme der KVI hätte die EU-Kommission ein Beispiel gehabt, an dem sie sich für die Ausarbeitung der eigenen Regulierung hätte orientieren können. EU-Parlament und EU-Rat hätten sich bei der Bewertung des Vorschlags auf die Ausführungsgesetzgebung der Schweiz stützen können.
Der indirekte Gegenvorschlag, der in der Schweiz als Antwort auf die KVI eingeführt wurde, dürfte diese Rolle nicht einnehmen können. Der Rechtsausschuss des europäischen Parlaments hat sich mit einer grossen Mehrheit (21 zu 1 bei einer Enthaltung) für ein strenges Lieferkettengesetz mit Haftung und Geltung für alle im Binnenmarkt tätigen (also auch die schweizerischen) Unternehmen ausgesprochen. Diese Entscheidung des Ausschusses ist nicht bindend. Er zeigt aber, dass das Parlament kaum von einer Regulierung ohne Haftung zu überzeugen sein wird, die mit dem schweizerischen Gegenvorschlag vergleichbar wäre.
Was von der “Initiative für nachhaltige Corporate Governance”, bzw. dem EU-Lieferkettengesetz tatsächlich umgesetzt wird und auf die Schweiz zukommt, bleibt abzuwarten. Schweizerinnen haben keine demokratischen Mitwirkungsrechte. Wer dennoch versuchen will, die Regulierung zu beeinflussen, kann hier noch bis am 8. Februar an der öffentlichen Konsultation teilnehmen.