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EU-Gipfel: Orientierungshilfe im Interpretationsnebel

Kaum haben die EU-Staatschefinnen eine Einigung erzielt und den Kompass für die EU neu ausgerichtet, erhebt sich der Nebel der politischen Interpretation. Ein Blick auf die Fakten.

Nach der Einigung am EU-Gipfel versuchen die politischen Akteure, die Ergebnisse in einem für sie schmeichelhaften Licht zu präsentieren. Die Sparfüchse zeigen sich als besonders ausgefuchste Verhandelnde, die geistigen Eltern des Rettungspakets betonen, wie historisch einmalig das Paket ist, Aktivistinnen empören sich über die Unzulänglichkeiten der Einigung usw. Das ist normal und verständlich im politischen Prozess. Dennoch können die verschiedenen Geschichten die Sicht auf die Dinge vernebeln. Hier deshalb ein Klärungsversuch zu einigen Fragen.

  1. Zahlen die “sparsamen vier” jetzt weniger?
  2. Wird weniger in Klimaschutz investiert?
  3. Wie wird das Wiederaufbau-Programm “Next Generation EU” bezahlt? Und was heisst das?
  4. Rechtsstaatlichkeits-Klausel: Hat Orbán gewonnen?
  5. Wie geht es weiter?

Zahlen die “sparsamen vier” jetzt weniger?

Die am härtesten verhandelte Frage war, wie das Rettungs- und Wiederaufbau-Programm “Next Generation EU” aussehen soll. Genauer: Wieviel der insgesamt 750 Milliarden Euro wird als Zuschuss ohne Rückzahlungsverpflichtung vergeben und wieviel als Kredit. Die “sparsamen vier” unter der Führung des Niederländers Mark Rutte wollten möglichst gar nichts als Zuschuss vergeben. Sie begründeten das mit der Befürchtung, dass die südlichen Länder das Geld falsch und verschwenderisch einsetzen würden. Von ursprünglich geplanten 500 Milliarden Euro in Zuschüssen konnten Rutte und seine Anhängerinnen den Betrag auf 390 Milliarden Euro herunterhandeln. Zudem konnten sich die “sparsamen vier” höhere Rabatte bei ihren Beiträgen zum mehrjährigen Finanzrahmen aushandeln. Diese höheren Rabatte feierten die “sparsamen vier” als grossen Sieg.

Daraus folgt aber nicht, dass die “sparsamen vier” weniger zahlen als im letzten Finanzrahmen. Im Vergleich zu dem, was die Niederlande und Österreich im vorherigen Zeitraum 2014-2020 zum EU-Budget beitrugen, werden sie ab 2021 wesentlich mehr zahlen. Sie müssen mithelfen, die Finanzierungslücke zu stopfen, die Grossbritannien durch den Brexit hinterlässt. Insgesamt konnten sich die “sparsamen vier” also nur eine etwas weniger starke Erhöhung ihrer Beiträge aushandeln, keine Reduktion.

Wird weniger in Klimaschutz investiert?

Klimaschützerinnen sind nicht zufrieden mit dem Resultat des EU-Gipfels. Kein Wunder: Der ursprüngliche Verhandlungsvorschlag der EU-Kommission sah mehr Investitionen in Forschung und Klimaschutz vor als das, worauf man sich nun einigte. Der Grund dafür ist, dass die “sparsamen vier” in der Verhandlung den Gesamtbetrag der Zuschüsse drückten. Damit diese Reduktion aber nicht zulasten der Mitgliedstaaten geht, die diese Zuschüsse für den Wiederaufbau benötigen, wurde die geplante Zusatzfinanzierung der EU-Programme für Gesundheit, Forschung und Klimaschutz zusammengestrichen. Ironischerweise begründeten die “sparsamen vier” ihre Opposition gegen Zuschüsse ursprünglich mit dem Hinweis darauf, dass sie mit dem Geld lieber Zukunftsinvestitionen statt die Schulden anderer Mitgliedstaaten finanzieren möchten. Ihre Opposition hatte genau den gegenteiligen Effekt.

Aber das heisst nicht, dass weniger investiert würde als im letzten Budgetzeitraum von 2014-2020. Die Budgets für die Programme steigen weniger stark an als vor dem EU-Gipfel vorgeschlagen. Konkret sieht das so aus: 

  • Forschung: Für das EU-Forschungsprogramm Horizon Europe stehen 80.9 Milliarden Euro zur Verfügung, wenn man die Beträge aus dem mehrjährigen Finanzrahmen und Next Generation EU zusammenzählt. Das sind 16.2 Milliarden Euro mehr als in der letzten Budgetperiode, wenn man die Beiträge abzieht, die an britische Universitäten und Forscherinnen gingen.
  • “Just Transition Fund”: Dies ist ein neuer EU-Fonds, der den Übergang zu einer klimafreundlicheren Wirtschaft unterstützen soll. Dabei soll er vor allem Regionen unterstützen, die zur Zeit noch stark von umweltschädlichen Industrien abhängen. Die EU-Staatschefinnen rüsten diesen Fonds mit 17.5 Milliarden Euro aus. Das ist viel neues Geld, aber weniger als die EU-Kommission vorgeschlagen hatte. 

Ein grosser Sieg für Klimaschützerinnen ist die Einigung der Staatschefinnen auf ein sogenanntes “Climate Mainstreaming” Ziel von 30%. Das heisst, dass 30% des gesamten EU-Budgets (inklusive Next Generation EU) für Massnahmen eingesetzt werden, die einen positiven Effekt auf das Klima haben. Das Climate Mainstreaming ist nicht perfekt und es hindert die EU-Mitgliedstaaten nicht daran, auch klimaschädliche Ausgaben zu tätigen. Dennoch: Die 30% sind beträchtlich mehr als die 20% für den Zeitraum von 2014 bis 2020. Zudem berechnet es sich auf einem viel grösseren Budget. Mussten im letzten Budget-Zeitraum 206 Milliarden Euro der Ausgaben einen positiven Klima-Effekt nach sich ziehen, so sind es im kommenden Budget-Zeitraum ca. 600 Milliarden Euro.

Weitere Investitionen könnten von der Europäischen Investitionsbank (EIB) kommen. Die EU-Staatschefinnen wollen die EIB stärken, damit diese in den Klimaschutz investieren kann. Sie fordern die EIB deshalb auf, bis Ende 2020 eine Kapitalerhöhung zu prüfen und zu beschliessen. 

Die EU wird also insgesamt mehr in Klimaschutz und Forschung investieren als je zuvor. Die Klage, dass das nicht genügt, stimmt aber wahrscheinlich ebenso.

Wie wird das Wiederaufbau-Programm “Next Generation EU” bezahlt? Und was heisst das?

Die EU Kommission finanziert Next Generation EU durch die Herausgabe von Obligationen am Kapitalmarkt. Es ist das erste Mal, dass europäische Länder gemeinsam in diesem Ausmass Schulden aufnehmen. Deshalb, und weil ein Teil des aufgenommenen Geldes à fonds perdu an Mitgliedstaaten geht, darf diese Entscheidung als ersten Schritt zu einem solidarischeren Europa bezeichnet werden. 

Die EU darf laut der Entscheidung der Staatschefinnen aber nur bis 2026 Geld am Kapitalmarkt aufnehmen. Das Rettungsprogramm und seine Finanzierung werden in der Einigung als einmalige Reaktionen auf eine ausserordentliche Situation dargestellt. Es ist also keineswegs sicher, dass diese Entscheidung auch langfristig zu einer stärkeren Integration führt. Aber der Weg ist vorgespurt. 

Denn die EU hat ein Tabu gebrochen. Wenn wieder eine Krise kommt, wird es einfacher sein, auf diesen Präzedenzfall hinzuweisen und erneut gemeinsame Schulden aufzunehmen. Zudem ist noch unklar, wie die aufgenommenen 750 Milliarden Euro zurückgezahlt werden. Ein Grossteil der Schulden wird erst nach dem Zeitfenster des mehrjährigen Finanzrahmens fällig werden, die letzten Teile davon sogar erst im Jahr 2058. Wenn die EU den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen verhandelt und die Rückzahlung der Kredite im Budget mit einberechnen muss, gibt es vier Möglichkeiten: 

  1. Die Mitgliedstaaten erhöhen ihre Beiträge. 
  2. Die Ausgaben für EU-Programme werden gesenkt. 
  3. Neue Finanzquellen für die EU werden erschlossen.
  4. Die Kredite werden am Kapitalmarkt refinanziert. 

Die Refinanzierung am Kapitalmarkt, also die erneute gemeinsame Schuldenaufnahme, könnte der Weg des geringsten Widerstands sein und sich so etablieren. 

Die Staatschefinnen haben sich auch geeinigt, dass die EU neue Finanzquellen anzapfen soll. Die einzige verbindliche Entscheidung dazu beschränkt sich aber auf die Abgabe auf nicht recycelte Plastik-Abfälle, die ab 2021 eingeführt werden soll. Die Staatschefinnen schlagen auch vor, dass das europäische Parlament und der EU-Rat sich auf eine Digital-Steuer und eine CO2-Abgabe an der EU-Aussengrenze einigen sollten. Diese würde ab 2023 erhoben. Wie genau das aussehen wird und ob diese Steuern tatsächlich zustande kommen, ist noch unklar. 

Rechtsstaatlichkeits-Klausel: Hat Orbán gewonnen?

Der ungarische Präsident Viktor Orbán und der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki feierten sich als grosse Sieger nach dem EU-Gipfel. Das Ziel vieler Staatschefinnen, der Kommission und des Parlaments war, EU-Gelder an rechtsstaatliche Bedingungen zu knüpfen. Orbán und Morawiecki meinten, sie hätten diese Klausel wegverhandelt. Aber darüber sind sich nicht alle einig. Wie kann man sich denn nicht einig sein, wenn es doch eine Einigung gegeben hat? Ein Blick in den Einigungstext zeigt den Streitpunkt auf.

Bild: Ausschnitt aus dem Einigungstext.

Der Abschnitt des Einigungstexts bezieht sich auf die Wichtigkeit der Rechtsstaatlichkeit, die im vorhergehenden Abschnitt beschrieben wird. Er besagt, dass die EU-Kommission im Falle einer Verschlechterung des Rechtsstaats in einem Mitgliedsland Budget-Massnahmen vorschlagen wird. Der EU-Ministerrat kann diese mit einer qualifizierten Mehrheit bestätigen. Eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat ist keine einfache, aber auch keine unmögliche Hürde. Wenn das genügt, sind Orbán und Morawiecki noch nicht sicher vor Budgetkürzungen. 

Der Interpretationsstreit entfacht sich um die Bedeutung des letzten Satzes: “Der Europäische Rat wird sich rasch mit dieser Angelegenheit befassen.” Der Europäische Rat ist die Versammlung der EU-Staatschefinnen und entscheidet im Einstimmigkeitsprinzip. Jede hat ein Veto. Wenn dieser Satz nun bedeutet, dass der Europäische Rat auch noch seinen Segen geben muss, bevor das Budget gekürzt wird, dann haben alle EU-Staatschefinnen ein Veto. Orbán hätte gewonnen. Eine andere Interpretation wäre, dass die Budgetkürzung nach der qualifizierten Mehrheit im EU-Ministerrat umgesetzt werden kann und der Europäische Rat sich einfach auch noch mit der Rechtsstaat-Verletzung befasst. Laut Politico gibt es sogar noch eine dritte Art, diesen Satz zu interpretieren.

Fazit: Es hat noch niemand gewonnen. Um die Formulierung werden der Rat und das Parlament in den kommenden Tagen und Wochen weiterringen.

Wie geht es weiter?

Jetzt ist das europäische Parlament an der Reihe. Es hat ein Veto-Recht. Viele Parlamentarierinnen sind nicht zufrieden. Im Communiqué des Parlamentspräsidenten und seines Verhandlungsteams fordert das Parlament folgende Anpassungen:

  • Mehr Zuschüsse für die EU-Programme, die in die Zukunftsfähigkeit der EU investieren sollen: Horizon Europe, InvestEU, Erasmus+
  • Eine verbindlichere Rechtsstaatlichkeitsklausel
  • Mehr Mitsprache für das Parlament bei der Verwendung der Gelder im Wiederaufbau-Programm
  • Die verbindliche Einführung von mehr Eigenmitteln für die EU

Mit diesen Positionen geht das EU-Parlament in die Verhandlungen. Die Parlamentarierinnen wissen aber auch, dass der aktuelle Vorschlag besser ist als das, was sie sich noch vor drei Monaten erhofft hätten. Wieviel sie in der Verhandlung riskieren werden, bleibt abzuwarten.