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EU verstehen Europa in der Welt Schweiz

Brüssel hat keine Meinung. Brüssel hat Konsens.

In Brüssel dreht sich alles um die Mitgliedstaaten. Wer mit der EU verhandelt, muss nicht nur eine EU-Vertreterin sondern 27 Regierungen überzeugen.

Konsens in Brüssel

Als ich im Juni nach Brüssel kam, erhoffte ich mir unter anderem, mehr über die Interessen, Ziele und Strategien Brüssels, bzw. der EU zu erfahren. Schliesslich hatte ich in den letzten Jahren viele Zeitungsartikel gelesen, die mir darlegten, was “Brüssel” will und was “Brüssel” macht.

Um mich möglichst schnell auf den Brüsseler Stand der Dinge zu bringen, abonnierte ich die einschlägigen Newsletter der EU-Bubble. Seither höre und lese ich kaum noch, was “Brüssel” will.

Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste Grund ist schnell verstanden. In Brüssel sitzen verschiedene EU-Institutionen mit meist unterschiedlichen Interessen. Wer sich mit der EU auskennt,  spricht deshalb nicht von “Brüssel” sondern von den einzelnen Institutionen, also von der EU-Kommission, dem EU-Rat, dem Parlament oder einer andere Institution, die etwas will oder macht.

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Der zweite Grund ist für einen Neuankömmling wie mich weniger banal. Statt der erwarteten Berichte über die Interessen der EU lese ich in den News für die EU-Bubble vor allem Analysen über politische und wirtschaftliche Entwicklungen in den Mitgliedstaaten. In Brüssel dreht sich alles um die Mitgliedstaaten.

Um zu verstehen wieso, hilft ein Blick auf den institutionellen Aufbau der EU. Wir können uns die EU wie eine Schweiz vorstellen,

  • in welcher der Bundesrat durch die Kantonsregierungen ernannt wird,
  • in welcher der Ständerat aus Mitgliedern der Kantonsregierungen besteht,
  • in welcher der Ständerat mehr Macht hat als der Nationalrat 
  • in der viele wichtige Entscheidungen die einstimmige Zustimmung des Ständerats benötigen, zum Beispiel die Unterzeichnung internationaler Verträge.

Für einen ausführlicheren Vergleich zwischen der Schweiz und der EU empfehle ich dir diesen Artikel.

Die Schweiz wirkt neben der EU wie ein zentralistischer Superstaat. Die Mitgliedstaaten haben innerhalb der EU viel mehr zu sagen als die Kantone innerhalb der Schweiz. Kein Wunder interessiert sich “Brüssel” also vor allem dafür, was in den Mitgliedstaaten passiert.

Das ist eigentlich nicht verwunderlich, denn die EU ist kein Bundesstaat wie die Schweiz. Und dennoch ist diese Erkenntnis für mich kontraintuitiv. Denn in der Schweiz hörte ich oft, wie zentralistisch die EU sei im Gegensatz zur subsidiär aufgebauten, föderalen Schweiz.

Diese unreflektierte Selbstgefälligkeit beeinträchtigt unser Verständnis der EU. Sie schadet uns in den Verhandlungen, zum Beispiel wenn es um die Personenfreizügigkeit oder das Rahmenabkommen geht.

Wir verhandeln nicht mit Brüssel

Die Macht der Mitgliedstaaten bedeutet nämlich, dass “Brüssel” in Verhandlungen nicht eigenständig seine Position anpassen kann. Wenn wir mit der EU verhandeln, verhandeln wir mit der konsolidierten Position von 27 demokratisch legitimierten Regierungen. Insgesamt sind es nicht zwei Verhandlungspartner (die EU und die Schweiz), sondern 28 (die Mitgliedstaaten und die Schweiz). Mit dem Nachteil für die Schweiz, dass 27 der 28 vorher ihre Position konsolidiert haben und somit kaum Spielraum für die Schweiz als 28. Verhandlungsteilnehmerin lassen.

Was in der Schweiz beim Rahmenabkommen zu beobachten ist, sehen wir auch in Grossbritannien bei den Brexit-Verhandlungen. Nationale Politikerinnen fordern mehr Flexibilität von der EU. Sie vergessen (oder ignorieren), dass die EU nur so viel Flexibilität hat, wie 27 Regierungen ihr gewähren. Die nationalen Politikerinnen fordern, dass die Schweizer Regierung einfach hart verhandeln sollte. Aber selbst wenn man das Verhandlungsteam der EU mit besonders hartem Verhandlungsgeschick austricksen könnte: Das Verhandlungsteam würde noch am selben Tag von den 27 anderen Regierungen zurückgepfiffen werden.

Hartnäckiger Konsens

27 Mitgliedstaaten sind anspruchsvolle Verhandlungspartner. Alle haben ihre eigene politische Agenda, die Konsensfindung ist schwierig (man erinnere sich an den letzten EU-Gipfel). Ist ein Konsens einmal gefunden, wird er nicht so schnell wieder angepasst. Verkörpert wird dieser Konsens durch die EU-Verträge, eine Art Verfassung der EU. Da ist der freie Personenverkehr genauso verankert wie der freie Warenverkehr. Von aussen an diesem Konsens zu rütteln, ist doppelt schwierig.

Zudem haben die Mitgliedstaaten ein Interesse am weiteren Bestehen der EU, sei es wegen des grossen Marktes, wegen der Personenfreizügigkeit oder aus historischen und geopolitischen Überlegungen. Und wenn die EU weiter bestehen soll, muss sie Mitgliedern mehr bieten als Nichtmitgliedern. Es ist daher eine rationale Verhandlungsposition der Mitgliedstaaten, keinem Nichtmitglied dieselben Vorteile der EU zu gewähren, wenn es sich nicht an die EU-Regeln hält und sich nicht an deren Kosten beteiligt.

Im Abstimmungskampf um die Kündigungsinitiative der SVP und später bei der Debatte um das Rahmenabkommen wird die EU-skeptische Seite das Argument bringen, dass man mit der EU verhandeln und Kompromisse finden könne. Das Argument muss nicht zwingend falsch sein. Um seine Plausibilität einschätzen zu können, müsste das Argument jedoch so formuliert sein: «Um XY durchzusetzen, müssen wir uns mit 27 Regierungen einigen, die ein Interesse daran haben, dass es ausserhalb der EU weniger attraktiv ist als innerhalb.»  

Klingt halt sofort etwas anspruchsvoller.