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EU verstehen Europa in der Welt

Bedrohliche Unfähigkeit

Die EU kann nicht effektiv auf aussenpolitische Herausforderungen reagieren. Das Einstimmigkeitsprinzip lähmt sie. Und das ist gefährlich. Denn in Europa ist schonmal ein Staat an diesem Prinzip zugrunde gegangen.

Bedrohliche Unfähigkeit
Bedrohliche Unfähigkeit
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“Europe in action”, twitterte Charles Michel am Morgen des 25. Mai stolz. Der Tweet des Präsidenten des Europäischen Rats zeigte ein Bild der aktuellen Flugbewegungen über Osteuropa. Das Gebiet über Belarus war leer. Genauso wie die vom Europäischen Rat am Tag zuvor verabschiedeten Sanktionen es vorsahen. 

Die EU hatte den europäische Fluglinien verboten, den belarussischen Luftraum zu überfliegen. Und den belarussischen Fluggesellschaften wurde untersagt, den EU-Luftraum zu nutzen. Das Bild des Flugradars sollte aufzeigen, dass die EU mutige Entscheidungen treffen kann.

Die Symbolik des Radarbilds ist unbestreitbar. Doch wie steht es um den Effekt der EU-Sanktionen?

Der Europäische Rat beschloss neben den Bestimmungen für den Flugverkehr auch, neue Sanktionen gegen Personen und Organisationen im Umfeld des belarussischen Diktators Lukashenka zu erheben. Wie weit die EU bei den Sanktionen gehen wird, ist noch unklar. Bisherige Sanktionen gegen Lukashenka scheinen keine abschreckende Wirkung gehabt zu haben, wie die zunehmende Repression in Belarus zeigt.

Putin profitiert

Zudem werfen die Sanktionen Belarus noch stärker in die Abhängigkeit von Putins Russland, von dem verschiedene Expert*innen erwarten, bei der Flugzeugentführung involviert gewesen zu sein. Gegenüber Russland konnte sich die EU nicht zu stärkeren Sanktionen einigen. 

So profitiert Putin dreifach: Die Souveränität der EU wurde verletzt, Bloggerinnen und Aktivisten wurden eingeschüchtert und er wird mit einem noch treueren belarussischen Schosshund belohnt. 

Die EU hat sich also, wie so oft in ihrer Aussenpolitik, für Symbolik statt Wirkung entschieden. “Europe in action” offenbart auch “European inaction”.

Wenn die EU ihr Mantra, “ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts” zu sein nicht der Lächerlichkeit preisgeben will, muss sie stärker reagieren. Sie muss so reagieren, dass es ähnliche Aktionen in Zukunft abschreckt. Doch das Einstimmigkeitsprinzip der EU verunmöglicht schwierige, aussenpolitische Entscheidungen. 

Einstimmigkeit macht erpressbar

Und das kann verheerende Folgen haben, wie das Beispiel von Polen-Litauen zeigt. Polen-Litauen erstreckte sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert über Gebiete des heutigen Polens, Belarus, Litauens und Lettlands. Es war eine Mischung aus Adelsrepublik und Königreich. Die Adligen des Landes wählten den König in einer freien Wahl und hielten die Macht des Königs mithilfe eines Adelsparlaments in Schach. 

Mit der Zeit konnten sich die Adligen immer mehr Macht erarbeiten. So konnte der König bald nur noch mit Zustimmung des Adelsparlaments ein Gesetz verabschieden. Später wurde sogar das sogenannte “liberum veto” eingeführt: Jedes Parlamentsmitglied hatte die Möglichkeit jede Entscheidung zu verhindern.

So wurde Polen-Litauen zum Spielball fremder Mächte. Wurde ein Teil des Landes angegriffen, konnte sich Polen-Litauen nicht zu einer gemeinsamen Verteidigung durchringen. Die angreifende Macht musste bloss ein korruptes Mitglied des Adelsparlaments schmieren. Dessen Veto verunmöglichte eine gemeinsame Verteidigung. Jedes Adelshaus war auf sich allein gestellt: Eine einfache Beute für russische Zaren, schwedische Könige und Krim-Tataren.

Einstimmigkeit macht erpressbar

Die Aussenpolitik der EU der vergangenen zehn Jahre sieht vor dem Hintergrund dieser Geschichte noch besorgniserregender aus als ohnehin schon. Putin hat Teile der Ukraine annektiert, weil sich die Ukrainerinnen der EU annähern wollten. Von ihm kontrollierte Truppen haben ein Passagierflugzeug voller EU-Bürgerinnen abgeschossen. Der russische Geheimdienst führt Exekutionen auf dem Staatsgebiet von EU-Staaten aus und hat ein tschechisches Waffenlager in die Luft gejagt

Aber die EU konnte sich als Antwort darauf bisher nur zu Wirtschaftssanktionen und einigen gezielten Sanktionen durchringen. Auch die Gaspipeline Nord Stream 2 wird aufgrund deutscher Interessen und einer guten Dosis rechtlich akzeptierter Korruption (ja, damit ist Gerhard Schröder gemeint) weitergebaut. Dies wird Putins Einfluss auf Europa und speziell Osteuropa stärken und gibt ihm die Möglichkeit, die europäische Souveränität in Zukunft noch aggressiver zu missachten.

Auch die vergangenen Monaten haben die aussenpolitische Unfähigkeit der EU offengelegt.

Die ungarische Regierung legte wiederholt ihr Veto gegen aussenpolitische Positionierungen der EU ein, zum Beispiel als die EU das chinesische Regime für ihr Verhalten in Hongkong kritisieren wollte oder als die EU kürzlich eine gemeinsame Position im Konflikt in Israël/Palästina einnehmen wollte.

Das Einstimmigkeitsprinzip in aussenpolitischen Belangen kann ein Auseinanderreissen der EU verhindern. Es zwingt alle zur Zusammenarbeit. Kein Mitgliedstaat kann überstimmt werden und so kann sich die EU auch nicht in eine Richtung entwickeln, die den Interessen einer Mitgliedstaatsregierung fundamental widerspricht.

Fatale Vorsicht

Das Einstimmigkeitsprinzip heisst aber auch, dass immer die kurzfristig vorsichtigste Vorgehensweise gewählt wird. In einem kooperativen Umfeld mag das auch langfristig eine gute Strategie sein. Aber die EU befindet sich längst nicht mehr in einem kooperativen Umfeld. Sie wird angegriffen. Und wer bei jedem Schlag der Gegnerin nachgibt, weil es kurzfristig das vorsichtige Vorgehen ist, der ermutigt die Gegnerin, in Zukunft nochmal und noch härter zuzuschlagen.

In einem aggressiven Umfeld ist wiederholtes klein beigeben langfristig fatal.

Zudem kann das Einstimmigkeitsprinzip nur so lange funktionieren, wie allen Mitgliedstaatsregierungen etwas am Erfolg der EU gelegen ist. In diesem Fall wäre klar, dass auf Gefahren von aussen reagiert werden muss. Es ist nicht sicher, ob das gemeinsame Interesse am Erfolg der EU heute noch gegeben ist. Zumindest agiert Viktor Orbans ungarische Regierung oft so, als wäre ihr die EU egal. 

Polen-Litauen konnte sich 1791 nach Jahrzehnten des Niedergangs endlich zu einer liberalen Verfassung durchringen, die den Staat wieder handlungsfähig machen sollte. Aber es war zu spät. Die mittlerweile viel stärkeren Nachbarsmonarchien entschlossen sich, das liberale Experiment zu beenden. Das russische Reich, das preussische Reich und die Habsburg-Monarchie teilten Polen-Litauen unter sich auf.

Es bleibt zu hoffen, dass die europäischen Regierungen nicht so lange warten, um aussenpolitisch handlungsfähig zu werden.

2 Antworten auf „Bedrohliche Unfähigkeit“

Danke Jonas für deine tollen und lernreichen Beiträge. Durch meinen Beruf, bin ich täglich mit der EU als Zollexperte der Zollverwaltung konfrontiert. Als grüner Politiker ist die EU eines von meinen Interessen. Ich freue Mich jedes Mal wenn ich bekomme den neuen Hauptbericht ! Ich wünsche Dir noch viel Erfolg. Freundliche Grüsse Pascal

Vielen Dank für das Feedback! Es freut mich, wenn der Hauptstadt-Bericht nützlich ist für dich.
Gruss, Janos

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