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Wer regiert die EU?

Regiert der europäische Rat oder die EU-Kommission? “Alarums and Excursions”, das neue Buch von Luuk van Middelaar, hilft bei der Beantwortung dieser Frage.

Wer regiert die EU?

Wer hat das Sagen in Europa? Die Frage ist auch darum umstritten, weil in ihrer Beantwortung immer ein Stück Ideologie mitschwingt. Europäische Föderalisten sehen in der EU-Kommission die Keimzelle einer künftigen europäischen Regierung. Die Kommission sieht sich selber ebenfalls gerne so. Doch in Krisensituationen, in denen politische Führung am meisten gefragt ist, steht der europäische Rat im Zentrum, nicht die Kommission. Das war auch am EU-Gipfel vom 17.-21. Juli sichtbar. Wer regiert also die EU? 

Hinweis: EU-Kommission? Europäischer Rat? Falls du noch etwas Grundlagenwissen zu diesen und anderen EU-Institutionen brauchst, empfehle ich dir diese Übersicht.

Der Historiker und Philosoph Luuk van Middelaar geht dieser Frage in seinem Buch “Alarums and Excursions” nach. Van Middelaar war von 2009-2014 Redenschreiber des ersten ständigen Präsidenten des europäischen Rats, Herman van Rompuy. Das macht ihn nicht zum neutralsten Beobachter. Dennoch sind seine Einschätzung und Argumentation hilfreich. 

Van Middelaar unterscheidet zwischen “politics of rules” und “politics of events”. Mit “politics of rules” meint van Middelaar das Kerngeschäft der EU. Das heisst, einen Markt auf die Beine stellen und gemeinsame Regeln finden, damit der Markt funktioniert. Hier werden verschiedene, meist vorhersehbare Interessen ausgehandelt. Langweilig, technisch: Genau dafür wurde die EU gebaut. 

In den “politics of events” geht es darum, eine unvorhersehbare Ausnahmesituation unter Kontrolle zu bekommen. Zum Beispiel eine Euro-Krise oder eine Pandemie, die eine Jahrhundert-Rezession auslöst. Das bedingt politische Führung und Gestaltung ausserhalb des vorgegebenen Rahmens. Schnell, grob, potenziell verheerend: Die EU wurde gebaut, um genau nicht so zu agieren.

Macht und Autorität

Luuk van Middelaar meint, dass die Kommission geeignet ist für die “politics of rules”. Dort ist das technische Fachwissen der EU-Verwaltung gefragt. Die  EU-Verträge geben der Kommission auch die klare Verantwortung dafür. Die “politics of events” sind jedoch Sache des ueropäischen Rats. Denn für politische Gestaltung ausserhalb des Vorgesehenen braucht es politische Autorität und eine Machtbasis. Staatschefinnen bringen diese Autorität und Machtbasis mit. Sie haben zuhause meistens eine Parlamentsmehrheit oder -koalition und die Regierung an ihrer Seite. Und in Brüssel können sie auf ihre Minister im Ministerrat zählen. Diese Machtbasis bedeutet, dass die Staatschefinnen eine gemeinsame Entscheidung auch zuhause “durchdrücken” können. Die Kommission hat nichts Vergleichbares. Zudem sind “politics of events” emotional aufgeladen und im Fokus der Medien. Das ist ein Territorium für Politiker*innen, nicht für hohe Beamte.

Mit Frankreich vergleichbar

Für die Aufgabenteilung zwischen dem europäischen Rat und der Kommission ist der Vergleich mit dem französischen Präsidialsystem geeignet. Auch dieser Vergleich kommt von Luuk van Middelaar. Der europäische Rat hat als Kollektiv genau wie der französische Staatspräsident die politische Autorität, die er direkt von den Wählerinnen erhält. Er setzt die groben Linien fest und ist, falls notwendig, der oberste Krisenmanager. Zudem setzt er den Premierminister und die Regierung ein, die ihrerseits mit der europäischen Kommission zu vergleichen sind. Sie sind unbekannter und übernehmen das technische Regulierungsgeschäft. Sie leihen sich ihre Autorität beim Präsidenten statt bei den Wählerinnen und können deshalb jederzeit vom Präsidenten wieder zurückgebunden werden.

Ein französischer Präsident will nicht nur Krisen managen. Er steht auch für eine Vision der Zukunft. So eine Vision der Zukunft kann der europäische Rat nicht bieten. Zu stark ist er noch in internen Abwägungen und Verhandlungen verstrickt.

Wer regiert nun die EU? Die EU-Kommission übernimmt das Alltagsgeschäft der Regierung, während die heissen Eisen und die Notfälle vom europäischen Rat behandelt werden. Denn nur der europäische Rat bietet die dafür notwendige politische Autorität und Machtbasis auf.