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Wenn die Angst vor Solidarität zu schlechter Wirtschaftspolitik führt

Es gibt Argumente gegen das Rahmenabkommen. Die Kosten der Unionsbürgerrichtlinie sind keines.

Angst vor Solidarität

Heute fährt Bundespräsident Guy Parmelin nach Brüssel. In den letzten Klärungen zum Rahmenabkommen wollte der Bundesrat Zusicherungen der EU in drei Bereichen gewinnen: Staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie (UBRL). Bei den ersten zwei Punkten scheint die EU-Kommission zu Klärungen bereit, bei der UBRL bleibt sie hart. So gilt sie als letztes grosses Hindernis für das Rahmenabkommen aus Sicht des Bundesrats. 

Das unhinterfragte Schreckgespenst 

Speziell die FDP und die Mitte-Partei betonten wiederholt, wie wichtig es sei, dass die Schweiz nicht zur Übernahme der UBRL gezwungen würde. Es würde zu Sozialtourismus und hohen Kosten für die Schweizer Sozialwerke führen, so die Befürchtung. Und weil ein Grossteil der Linken selbst damit beschäftigt war, das Rahmenabkommen zu kritisieren oder totzuschweigen, wurde diese Annahme kaum je hinterfragt. Ein Beispiel dieses Konsens ist ein Artikel der SonntagsZeitung, in dem die Autoren ohne Begründung behaupten, die UBRL würde “enorm teuer”.

Man könnte meinen, nach einer Übernahme der UBRL bestiegen die EU-Bürgerinnen das nächste Flugzeug nach Zürich, wo sie beim Sozialamt ihren Schlüssel zur Sozialwohnung und den ersten Monat Sozialhilfe bar auf die Hand erhalten.

Doch das ist nicht so. Denn die UBRL würde den Zugang zur Sozialhilfe nur für jene EU-Bürger gleichberechtigt mit Schweizer Bürgerinnen zugänglich machen, die seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz arbeiten. Vorher ist die Sozialhilfe zeitlich begrenzt und für EU-Bürgerinnen nur dann zugänglich, wenn sie in der Schweiz gearbeitet haben und dann unfreiwillig arbeitslos geworden sind. Die Details findest du in der Grafik unten oder im Artikel, aus dem ich sie gestohlen habe.

Unterschied zwischen dem aktuellen Sozialhilfe-Regime und jenem nach einer Übernahme der UBRL. Quelle: Avenir Suisse.

Auswandern, um den Job zu verlieren?

Der hypothetische Sozialtourist müsste also zuerst alle diese Regeln kennen, dann eine Stelle in der Schweiz finden und diese Arbeit eine Weile lang ausführen (mindestens 3 Monate, 12 Monate oder 60 Monate, je nach dem wie lange er nachher Sozialhilfe beziehen will). Dann müsste er dafür sorgen, dass er entlassen wird, damit er für eine Weile Sozialhilfe beziehen kann, die mit Sicherheit tiefer sein wird als der Lohn für die Arbeit, die er vorher ausführte. 

Vielleicht fehlt mir die Fantasie, aber das scheint mir kein attraktives Szenario.

Ja, es wird mit einer Übernahme der UBRL einige EU-Bürgerinnen geben, die Pech haben, ihren Job in der Schweiz verlieren und neu etwas früher Zugang zur Sozialhilfe erhalten. Deshalb ist mit einem Anstieg der Kosten zu rechnen. Dass eine signifikante Zahl von “Sozialtouristen” aber bewusst in die Schweiz zieht, um dort einen Job zu verlieren, ist für mich schwer vorstellbar.

Nichts.

Die Kosten, welche die vollständige Übernahme der UBRL verursachen würde, hat die Avenir Suisse ausgerechnet. Im Worst Case Szenario der Avenir Suisse kostet die UBRL 75 Millionen CHF im Jahr. Das sind 2.3% der Sozialhilfeausgaben und ca. 0.01% der Schweizer Wirtschaftsleistung: Ein grosszügig aufgerundetes Nichts. 

Und wenn die UBRL plötzlich trotzdem doppelt zu teuer kommt, weil die Avenir Suisse selbst ihr Worst Case Szenario zu rosig gemalt hat, dann kostet es zweimal nichts.

Eine soziale Errungenschaft

Angesichts der tiefen Kosten könnte die Schweiz die UBRL auch ohne Rahmenabkommen als Zeichen des Goodwills und der Solidarität übernehmen. Wer in der Schweiz arbeitet, soll Zugang zu den Sozialwerken haben. Dadurch würden auch Schweizerinnen, die in der EU arbeiten, besser geschützt. 

Spätestens wenn man die wirtschaftlichen Vorteile des Rahmenabkommens – nämlich die Sicherung des Zugangs zum europäischen Binnenmarkt – gegenüber den potenziellen Kosten der UBRL abwägt, wird ersichtlich, wie absurd die Sorge um die Zusatzkosten ist.

Man kann aus verschiedenen Gründen gegen das Rahmenabkommen sein. Aber wenn das Rahmenabkommen an der Sorge um die Kosten der UBRL scheitern sollte, wäre es ein Beispiel dafür, wie die Angst vor Solidarität zu schlechter Wirtschaftspolitik führt.

Apropos Solidarität: Ab sofort kannst du die Arbeit am Hauptstadt-Bericht hier finanziell unterstützen.