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Sven Giegold: “Wer die Marktwirtschaft schützen will, muss sich mit den Daten-Oligopolisten anlegen.”

Der grüne Europa-Parlamentarier Sven Giegold im Gespräch über die in der EU geplante Digitalsteuer, den Kampf gegen Steuervermeidung und die Rolle der Schweiz.

EU Digitalsteuer

Am Mittwoch, 27. Januar 2021, führte ich ein Gespräch mit dem deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Sven Giegold. Er ist seit mehr als elf Jahren im Europäischen Parlament und eine der führenden Stimmen der grünen Fraktion. Seine Themengebiete sind vor allem die Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik. Zudem ist er Vize-Vorsitzender der parlamentarischen Delegation für die Beziehungen zu den EFTA-Ländern, zu denen auch die Schweiz gehört.

In diesem Interview spricht Giegold über Steuervermeidung, die Digitalsteuer in der EU und wie sie sich auf die Schweiz auswirken könnte.

Herr Giegold, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Finanz- und Steuerpolitik. Können Sie zusammenfassen, wie sich der Einsatz der EU gegen Steuervermeidung entwickelt hat?

Man muss wirklich unterscheiden zwischen Steuervermeidung und Steuerflucht. Im Bereich der Steuerflucht hat es riesige Veränderungen gegeben. Das traditionelle Geschäftsmodell vieler Staaten, Bankeinlagen dem Fiskus zu verschweigen, funktioniert nicht mehr. Es gibt den automatischen Informationsaustausch, daran hat sich auch die Schweiz beteiligt. Die klassischen Bankkonten zur Steuerflucht sind tot. Was es weiterhin gibt, ist die Steuerflucht durch komplexe Firmengeflechte und Briefkastenfirmen. Auch da haben wir einige Fortschritte. Europa macht öffentliche Transparenzregister, wodurch die Öffentlichkeit, aber auch die Strafverfolgungsbehörden leicht sehen können, wer hinter welchem Unternehmen steht. Leider beteiligt sich die Schweiz bisher nicht an einem öffentlichen Transparenzregister, was im Widerspruch steht zur Politik der “Weissgeldstrategie”. Und dann gibt es natürlich die aggressive Form der Steuervermeidung durch transnationale Unternehmen. Bei den Unternehmen gab es internationale Erfolge, die Europa nachvollzogen hat. Das betraf aber nur die Regulierung einiger extremen Formen der Steuervermeidung. Ausserdem gibt es in Europa das Prinzip, dass steuerliche Beihilfen verboten sind. Darauf hat die Schweiz jetzt auch reagiert, indem man das Prinzip unterbunden hat, dass ausländische Unternehmen anders behandelt werden als heimische. Man muss Unternehmen grundsätzlich gleich behandeln und darf keine Sonderkonditionen einräumen. Aber was wir in der EU nicht geregelt haben, ist, dass einige Länder Unternehmensgewinne mehr oder weniger überhaupt nicht besteuern und andere schon. Das ist das gleiche System, das auch die Schweiz intern hat. Es gibt Kantone, in denen es eine ordentliche und angemessene Unternehmensgewinn-Besteuerung gibt und andere, in denen es das nicht gibt. Das nutzen grosse Digitalkonzerne aus. Sie versteuern ihre Gewinne zunehmend überhaupt nicht mehr und dieses Problem ist bisher nicht gelöst.

Welche Massnahmen sind denn geplant, um diese Probleme in Zukunft zu lösen?

Also das Wichtigste ist die Digitalkonzernsteuer, die die EU-Kommission schon vor fast drei Jahren vorgeschlagen hat. Das ist eine Art zusätzliche Umsatzsteuer, weil wir das Problem der Gewinnbesteuerung in Europa nur einstimmig lösen können. Diese zusätzliche Umsatzsteuer könnte auch jedes Land einzeln einführen und gerade in Corona-Zeiten würde das zu fairem Wettbewerb beitragen. Wir sehen, dass zum Beispiel Amazon immer weiter wächst und die mittelständischen Handelsgeschäfte austrocknet, während die Gewinne von Amazon in Europa eigentlich gar nicht besteuert werden. Das schadet auch dem ländlichen Raum. Gerade die ländliche Bevölkerung verliert Arbeitsplätze im Einzelhandel, auch weil die Besteuerung ungleich ist. Ich sage es mal so: Die kleine Migros vor Ort zahlt Steuern, Amazon nicht. Das ist aus meiner Sicht für die Schweiz genauso ein Problem wie für Deutschland oder andere EU-Staaten.

In der Schweiz haben wir diesbezüglich das Glück, dass Amazon noch gar nicht so stark ist wie in anderen europäischen Ländern. Trotzdem: Das Problem bleibt bestehen. Was steht denn dieser digitalen Konzernbesteuerung im Weg?

Die Angst vor den Vereinigten Staaten. Die EU hat die Digitalkonzernsteuer noch nicht beschlossen, weil Deutschland blockiert. Derzeit beschliesst ein Mitgliedsland nach dem anderen nationale Digitalsteuern. Dadurch entsteht ein Flickenteppich, der auch der Marktintegration entgegensteht. Deutschland hat das bisher eben nicht gemacht, obwohl alle grossen EU-Länder dafür sind. Auch Grossbritannien hat eine Digitalsteuer auf nationaler Ebene. Die Ironie dabei ist: Wir wollen natürlich ein handlungsfähiges und starkes Europa, aber gerade Deutschland stellt oft seine kurzfristigen Export-Interessen höher als die Souveränität Europas. Das sieht dann so aus: Trump hat eine für Europa sehr teure Unternehmenssteuerreform durchgesetzt, die dazu führt, dass mehr Gewinne in den USA versteuert werden und weniger im Rest der Welt. Das war auch für Europa sehr teuer. Aber glauben Sie, Trump habe irgendjemanden in Europa um Erlaubnis gefragt? Und umgekehrt: Wenn wir sagen, es gehöre zur Steuergerechtigkeit, dass auch grosse Digitalkonzerne Gewinne in Europa versteuern, dann hat man soviel Angst vor dem Zorn unserer amerikanischen Partner, dass man gar nicht erst anfängt. Das ist ein Fehler. Wir warten alle auf eine Einigung in der OECD. Stand heute ist aber, dass die amerikanische Seite dort bisher gar nicht ernsthaft über eine digitale Konzernsteuer verhandelt. Und da, finde ich, muss ein handlungsfähiges Europa auf gemeinsame Regeln bestehen. Ich will noch eins zur Schweiz sagen: Wenn Sie glauben, der Kelch der Digitalisierung im Bereich der grossen Plattformen ginge an der Schweiz vorbei… ich habe auch ein romantisches Verhältnis zu Teilen der Schweiz, aber ich glaube, das wird nicht laufen. Amazon hat so starke Vorteile durch den Zugang zu den Daten, dass es am Ende auf der ganzen Welt dominant sein wird, ausser vielleicht in China und dort, wo Alibaba diese Grössenvorteile schon vorher hatte. Dort wo Amazon einmal ist, wird es seine Monopolvorteile ausspielen. Wenn wir das nicht verstehen, werden wir unseren mittelständischen Handel verlieren. Europa – und das gilt auch für die Schweiz – muss sich entscheiden: Wollen wir weiter soziale Marktwirtschaft oder wollen wir einen auf Daten-Oligopolen basierenden Digitalkapitalismus? Ich bin sehr dafür, dass wir das ohne Naivität und ohne ideologische Orientierung angehen. Es wird gesagt, man dürfe die nicht regulieren, das gehe gegen die Marktwirtschaft. Aber es ist umgekehrt: Wer die Marktwirtschaft schützen will, muss sich mit den Daten-Oligopolisten anlegen. Wer das nicht macht, wird am Ende seine soziale Marktwirtschaft verlieren. Und deshalb ist das auch eine falsche Debatte. Man verteidigt eine liberale Marktordnung, wenn man die Daten-Oligopolisten reguliert und besteuert.

Steuervermeidungspraktiken werden nicht nur von Digitalkonzernen betrieben. Würde die Digitalsteuer wirklich nur Digitalunternehmen treffen oder ist das einfach mal der Name dieser Steuer?

Nein. Die Digitalkonzernsteuer, die die EU vorgeschlagen hat, betrifft nur Unternehmen, die im digitalen Raum mindestens 750 Millionen Euro Umsatz machen. Damit sind die kleinen alle raus. Kein Startup wird damit gequält, auch der Hauptstadt-Bericht muss keine Digitalkonzernsteuer bezahlen, da kann man ganz beruhigt sein. Aber jetzt mal ernsthaft: Natürlich wird diese Steuer nicht nur von den Unternehmen bezahlt. Die Steuer wird wie immer weitergegeben. Das ist beim normalen Einzelhandel auch so. Es ist nicht leicht festzustellen, welcher Anteil einer Gewinnsteuer am Ende wieder im Endverkaufspreis landet. Aber im Moment ist der Wettbewerb unfair. Der traditionelle Einzelhandel gibt diese Steuer mehr oder weniger stark weiter, muss sie aber auf jeden Fall bezahlen. Amazon bezahlt nicht und das schafft unfairen Wettbewerb. Und diesen unfairen Wettbewerb muss man ausgleichen, wenn man nicht grundnaiv sein will. 

Wenn die EU sich zu einer Digitalkonzernsteuer durchringen würde: Wie würde sich so eine Massnahme auf Drittländer wie die Schweiz auswirken?

Erstmal gar nicht. Ich sehe keine Notwendigkeit, die Schweiz zu nötigen, eine ähnliche Steuer einzuführen. Dafür gibt es gar keinen Grund. Ich würde mich nur als Schweizer Bürger fragen: “Finde ich es denn richtig, dass es bei uns keine Digitalkonzernsteuer gibt?” Denn die Bemessungsgrundlage der Steuer bezieht sich immer auf die Umsätze im jeweiligen Land. Umsätze, die Digitalkonzerne mit Deutschen generieren, werden in Deutschland versteuert. Wenn die Schweiz sagt, sie lässt diesen unfairen Wettbewerb weiterlaufen, dann ist das ihre eigene souveräne Entscheidung. Wär ich Mittelständler auf dem Lande in der Schweiz, würde ich mich allerdings sehr ärgern.

Was erhoffen Sie sich von der neu gegründeten EU-Beobachtungsstelle für Steuerpolitik?

Ich glaube, sie wird regelmässig interessante Daten liefern, die diese Debatte weiter befeuern werden. Das ist auch dringend nötig, denn wir haben auch innerhalb der EU-27 die Probleme im Bereich der Steuerzusammenarbeit nicht gelöst. Und auch mit der Schweiz haben wir es nicht gelöst. Ich nehme wahr, dass man innerhalb der EU so vorgegangen ist: Seit zwanzig Jahren wird es als grosses Problem empfunden, dass wir in einem gemeinsamen Markt kein gemeinsames Steuerrecht haben. Langsam löst sich das auf. Natürlich wird die Schweiz sich irgendwann entscheiden müssen, denn man wird nicht akzeptieren, dass gegenüber Drittländern laxere Bedingungen gelten als innerhalb der EU. Umgekehrt ist es aber so, dass man auch innerhalb der EU noch so freudig Steuern vermeiden kann, dass man schwer Drittländern aufzwingen kann, was man selber nicht gelöst hat. Aber der Steuerfortschritt ist weiter auf der Agenda. Die Kassen sind leer. Ich glaube nicht, dass die Corona-Krise an der Steuerkooperation vorbeigehen wird, sondern man wird dann im Kampf gegen Geldwäsche und Steuervermeidung zulangen, weil man dort zusätzliche Einnahmen in dreistelliger Milliardenhöhe mobilisieren kann, ohne dass man wirklich die Steuern erhöhen muss. Man sorgt nur für Steuergerechtigkeit. 

Sie haben zu Beginn betont, dass viele der ganz grossen Konzerne sich ihre Steuern aussuchen können. Weil sie mobil sind, können sie den Steuern entfliehen. Gibt es andere Policies, mit denen man wieder mehr demokratische Handlungsfähigkeit über dieses mobile Kapital herstellen kann?

Ich glaube, das Zentrale ist, zu sehen, dass wir weltweit sehr grosse, je nach Schätzung vierstellige Milliardenbeträge pro Jahr an illegalem Geld haben. Das heisst, es gibt sehr viele Möglichkeiten, wie man mit unanständigen Aktivitäten Geld verdienen kann. Und dieses Geld wird versteckt. Ich finde das Buch “Land des Geldes” / “Moneyland” von Oliver Bullough sehr lesenswert. Es zeigt eben, dass wir derzeit einen Kampf führen, ob irgendwann grosse Teile der Firmen und Immobilien in den Händen von Leuten sind, die ihr Geld nicht anständig verdient haben. Und das verändert natürlich die Verhältnisse in unseren Gesellschaften. Daher glaube ich, der Kampf gegen Geldwäsche und die Frage nach der Herkunft des Geldes und der Einziehung krimineller Gelder ist ganz zentral. Europa zieht derzeit weniger als 1% des kriminell erworbenen Geldes ein. Das heisst, wir scheitern daran, die Spur des Geldes zu verfolgen. Wenn es uns gelingt, dort weiterzukommen, dann haben wir weniger Korruption und weniger unanständige Leute, die über wirtschaftliche Macht in unseren Gesellschaften verfügen. Ich glaube, das ist auch ein Beitrag zum Schutz westlicher Demokratien, die nämlich darauf beruhen, dass politische Macht und wirtschaftliche Macht von anständigen oder zumindest sich mehr oder weniger anständig verhaltenden Leuten ausgeübt wird. 

Das Buch “Moneyland” von Oliver Bullough kann ich ebenfalls wärmstens empfehlen. Hier ist ein Link dazu. Herzlichen Dank, Sven Giegold, für das Gespräch.

Das war das Gespräch mit dem Europa-Parlamentarier Sven Giegold. Falls du noch mehr zu Steuervermeidungstaktiken internationaler Konzerne wissen willst, empfehle ich dir diesen Beitrag. Falls du den Hauptstadt-Bericht noch nicht abonniert hast, kannst du dich hier einschreiben.