Kategorien
EU verstehen Schweiz

Wie denkt die EU über die Schweiz?

Fast gar nicht.

Politico Playbook

Als ich letztes Jahr nach Brüssel kam, fragte ich einige EU-Kenner und -Expertinnen, was ich lesen soll, um immer auf dem aktuellen Stand der Dinge zu sein. Das “Politico Playbook” sagten sie. 

Alle lesen das Playbook. Nicht unbedingt, weil alle es gut finden, aber weil alle anderen es ebenfalls lesen und man es deshalb gelesen haben muss.

Das Politico Playbook ist ein ausführlicher Newsletter zwischen 2500 und 3000 Wörtern, der jeden Werktagmorgen zwischen 07:00 und 07:30 Uhr in die Posteingänge der Brüsseler Bubble flattert. Darin fasst ein Journalist des Newsportals Politico die politischen Ereignisse des vergangenen Tages zusammen und kündet die wichtigsten Ereignisse des angebrochenen Tages an. Gewürzt wird das Ganze mit einer Portion Klatsch und Tratsch. 

Das Playbook ist ein Abbild dessen, was die EU-Bubble beschäftigt.

Wieso ich hier Werbung für ein Konkurrenz-Medium mache? Das frage ich mich auch. Aber diese Informationen sind wichtig, um die folgende Analyse zu verstehen. 

Ich wollte herausfinden, wie die EU über die Schweiz denkt. Da ich nicht jede Brüsseler EU-Politikerin und jeden EU-Beamten persönlich fragen kann, brauche ich einen repräsentativen, auswertbaren Ersatz: Das Politico Playbook.

Für meine Analyse kopierte ich den Text von allen Ausgaben des Politico Playbooks zwischen dem 01. Juli 2020 und dem 09. Februar 2021 in ein Dokument. Das ist der Text von über 150 Newslettern, 712 A4-Seiten mit 362’552 Wörtern. 

Über das zusammengetragene, kollektive Bewusstsein der EU-Bubble liess ich einen ausgeklügelten Textanalyse-Algorithmus laufen. 

Natürlich nicht. Ich durchsuchte das Dokument per Wortsuche und notierte, wie oft welches Land als Nomen oder Adjektiv genannt wird. Das heisst, ich notierte, wie oft “Switzerland” oder “Swiss” im Text vorkommt und notierte die Summe dieser Zahlen: 28. Dann tat ich dasselbe mit den EU-Mitgliedstaaten und einigen anderen Staaten zum Vergleich.

Bevor wir zum Vergleich kommen, brauchen wir ein wenig Kontext zu den 28 Erwähnungen der Schweiz. Was wurde über die Schweiz geschrieben?

12 der 28 Erwähnungen gehen auf das Konto des Politico Playbooks vom 28. September 2020 – dem Tag nach der Ablehnung der SVP-Kündigungsinitiative. Es ist der einzige Newsletter, in dem das Rahmenabkommen erwähnt wird. Drei weitere Erwähnungen betreffen die Geburtstage von bekannten Schweizer Persönlichkeiten (Ruth Dreifuss, Roger Federer und Ueli Maurer). Zwei Erwähnungen betreffen die (örtliche) Verschiebung des WEF. Zwei Erwähnungen betreffen die Messerattacke von Lugano im November 2020, zwei weitere die Nicht-Schliessung der schweizerischen Skigebiete. 

Wenn wir die Zahlen der Schweiz nun mit den Zahlen anderer Staaten vergleichen, zeigt sich: In der Rangliste der Präsenz im kollektiven Bewusstsein der EU-Bubble liegt die Schweiz am hinteren Ende. Hinter Kroatien, aber vor Lettland.

Anzahl Nennungen verschiedener Länder im Text aller Politico Playbook Newsletter zwischen dem 1. Juli 2020 und dem 09. Februar 2021.

Selbstverständlich ist dies keine exakte Wissenschaft. Grossbritannien war oft im Playbook weil die Endphase der Brexit-Verhandlungen liefen, Belgien ist so präsent, weil viele in der EU-Bubble in Belgien wohnen, Ungarn wird wegen Viktor Orbáns Angriffen gegen die Demokratie so oft erwähnt.

Dennoch hilft dieser Überblick, sich über die Wahrnehmung der Schweiz in der EU klarzuwerden. Die Gegnerinnen des Rahmenabkommens wollen “auf Augenhöhe” mit der EU verhandeln. Gleichzeitig ist Malta dreimal so präsent wie die Schweiz.

In den Schweizer Medien findet man fast jeden Tag ein neues Interview, einen neuen Meinungsbeitrag oder eine Analyse über die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Umgekehrt ist das nicht so. Nicht annähernd. 

Ein kleiner Trost ist, dass die Schweiz häufiger erwähnt wird als Norwegen, das ebenfalls kein EU-Mitglied ist.

Nun ist es natürlich etwas heikel, mich nur auf die Berichterstattung eines einzigen Newsletters zu stützen, auch wenn es der wichtigste ist. Was, wenn der Autor des Politico Playbooks etwas gegen die Schweiz hat? 

Ein Kontrolltest ist angezeigt. Ein anderes Medium, ein anderes Format, aber dieselbe Wort-Suche. Die Webseite euractiv.com ist eine in der EU-Bubble ebenfalls sehr verbreitete Nachrichtenplattform. Per Google-Suche durchsuchte ich die Webseite nach denselben Stichworten wie das Politico Playbook und notierte die Anzahl Suchergebnisse.

Anzahl Treffer, wenn man am 9. Februar 2021 per Google “site:”-Suche die euractiv.com Webseite nach verschiedenen Ländernamen (und deren zugehörigen Adjektiven) durchsuchte.

Das Resultat ist nicht genau gleich wie jenes des Politico Playbooks, aber das Gesamtbild bleibt dasselbe. Die Schweiz ist in der Öffentlichkeit der EU-Bubble so präsent wie ein Kleinstaat an der Peripherie des Kontinents. 

Der Lichtblick: Immerhin konnten wir in dieser Rangliste Malta überholen. 

Das nächste Ziel: Luxemburg einholen!

Es bleibt die Frage, ob die tiefe Präsenz der Schweiz überhaupt ein Problem ist. Der Vorteil ist, dass die Schweiz nicht wie Ungarn durch Skandale auffällt und sich negativ in das kollektive Bewusstsein einprägt. Der Nachteil ist, dass die EU als wichtigste Regulierungsbehörde der Schweiz die Schweiz nicht versteht. Das scheint mir ein Problem zu sein, doch es ist ein Problem für einen nächsten Beitrag.

Nachdem ich in diesem Beitrag so viel Werbung gemacht habe für Konkurrenz-Angebote, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass der Hauptstadt-Bericht das wohl einzige Brüsseler Medienprodukt ist, in dem sich die Schweiz und die EU “auf Augenhöhe” begegnen. Zumindest was die Anzahl Erwähnungen betrifft.