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EU verstehen

PR-Stunt oder demokratische Erneuerung?

Die Konferenz zur Zukunft Europas hat begonnen.

Konferenz Zur Zukunft Europas

Am 9. Mai – dem Europa-Tag – lancierte die EU die Konferenz zur Zukunft Europas in Strasbourg. Was ist das? Muss es die Schweiz kümmern? Und kann ich mitmachen? Dies ist eine Übersicht in sechs Teilen. Du kannst sie vom Anfang bis zum Schluss durchlesen, oder direkt zu jenem Teil springen, der dich interessiert.

  1. Die Vorgeschichte
  2. Was ist die Konferenz zur Zukunft Europas?
  3. Was bringts? (die pessimistische Version)
  4. Was bringts? (die optimistische Version)
  5. Ist die Konferenz relevant für die Schweiz?
  6. Wie kann ich mich einbringen?

1. Die Vorgeschichte

Eine “Neugründung Europas” forderte der damals frisch gewählte französische Präsident Emmanuel Macron im September 2017 in seiner Rede an der Sorbonne Universität. Mit einer Reihe von Bürgerinnen-Konsultationen soll die Basis geschaffen werden für ein demokratischeres, geeinteres und stärkeres Europa. 

Aber Macrons jugendlicher Übermut stiess in Europa nicht sofort auf Begeisterung. Die Chef-Pragmatikerin im deutschen Kanzleramt war nicht auf Experimente aus und die Regierungen vieler Kleinstaaten fürchteten in einem stärker integrierten Europa Einfluss zu verlieren. Mehr Integration sei keine Lösung, meinte der niederländische Premier Mark Rutte.

Erst als die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen gegen Ende 2019 ihr Amt antrat, gewann das Projekt wieder an Bedeutung. Mit Unterstützung des Parlaments lancierte die EU-Kommission die Idee einer Konferenz zur Zukunft Europas. Der Europäische Rat willigte unter der Bedingung ein, dass die Konferenz nicht zu einer Anpassung der EU-Verträge (das ist eine Art Verfassung der EU) führen würde. Von einer “Neugründung Europas” ist die Konferenz weit entfernt. 

Ursprünglich hätte die Konferenz im vergangenen Jahr beginnen und zwei Jahre dauern sollen. Die Pandemie und ein Kompetenzgerangel zwischen den Institutionen verunmöglichten dies. Nun wurde sie am 9. Mai 2021 offiziell eröffnet. Sie soll innerhalb eines Jahres durchgeführt werden.

2. Wie funktioniert die Konferenz zur Zukunft Europas?

Die Konferenz soll langfristige Prioritäten und Reformvorschläge für die EU-Politik machen. Dazu werden zuerst Ideen gesammelt. Auf einer online Plattform kann jede Interessierte ihre Reformvorschläge für die EU einbringen. 

Diese werden dann in nationalen und europäischen Bürgerinnen-Panels besprochen. Wie diese Bürgerinnen-Panels aussehen sollen, ist noch unklar. Sie sollen aber repräsentativ sein für die europäische oder nationale Bevölkerung. Ich stelle es mir wie eine Gemeindeversammlung vor, in der über Europa diskutiert wird anstatt über den Bau eines neuen Spielplatzes.

Werbung für die Konferenz zur Zukunft Europas vor dem Europäischen Parlament in Brüssel
“The future is in your hands” – Der Platz vor dem Europäischen Parlament in Brüssel wirbt für die Konferenz zur Zukunft Europas.

Die Anregungen aus den Bürgerinnen-Panels werden dann in der Vollversammlung der Konferenz besprochen. Diese Vollversammlung besteht aus Vertreterinnen des EU-Parlaments und des EU-Rats, nationalen Parlamentarierinnen, ausgewählten Teilnehmerinnen der Bürgerinnen-Panels und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft.

Geleitet wird die Konferenz von einer Präsidentschaft und einem Exekutivkommittee. Da sich die Europäischen Institutionen nicht einigen konnten, wer die Konferenz leiten soll, stellen die EU-Kommission, das EU-Parlament und der EU-Rat jeweils einen Drittel des Exekutivkommittees und nehmen die Präsidentschaft zu dritt wahr. 

In einem Jahr soll die Vollversammlung der Konferenz gemeinsam mit dem Exekutivkommitee einen Schlussbericht verfassen. Der Schlussbericht soll Empfehlungen für die Weiterentwicklung der EU aussprechen. Die Empfehlungen sind nicht bindend.

3. Was bringts? (Pessimistische Version)

Schon die Eröffnungsfeier der Konferenz in Strasbourg zeigte die Tragik des ganzen Unterfangens auf. Emmanuel Macron träumte bei seinem Amtsantritt noch von grossen europäischen Projekten. Vier Jahre später opferte er in seiner seiner Eröffnungsrede am 9. Mai die ersten Minuten dem urfranzösischen Anliegen, dass der Zweitsitz des europäischen Parlaments unbedingt in Strasbourg bleiben müsse. Nationale Kleinkrämerei statt europäische Vision.

Der Anlass überzeugte auch sonst nur bedingt. Die Moderatorinnen des Anlasses riefen die europäische Bevölkerung auf, ihre Chance zur Mitgestaltung wahrzunehmen. Es wirkte ähnlich überzeugend wie die Propaganda im Vorfeld einer Mitarbeiterinnen-Befragung in einem Grossunternehmen. “Deine Meinung ist uns wichtig”, heisst es jeweils, aber am Schluss entscheiden trotzdem die da oben.

Der ganze Prozess ist nur beschränkt demokratisch. Es ist unklar, wie entschieden wird, welche Ideen und Probleme die Bürgerinnen-Panels aufnehmen und diskutieren. Schon die Ideen-Sammlung gestaltet sich ungleich oder eben nur bedingt demokratisch. Nicht alle Europäerinnen haben die notwendigen Ressourcen und Informationen, um sich an der Ideen-Sammlung und Diskussion zu beteiligen.

Eine Berliner Beamtin hat das Knowhow und kann sich nach dem Feierabend die Zeit nehmen, um sich in die Diskussion einzubringen. Dem bulgarischen Landwirt fehlt vielleicht sogar die notwendige Internetverbindung (25% der bulgarischen Haushalte hatten 2019 noch keinen Internetzugang).

Wie wenig Spielraum für abweichende Meinungen die Konferenz zulässt, zeigt auch eine unscheinbare Fussnote in den Verfahrensregeln der Konferenz. Sie besagt, dass die Empfehlungen der Vollversammlung zwar per Konsens ausgesprochen werden müssen, dass aber die Stimmen der Vertreterinnen aus den Bürgerinnen-Panels nicht für diesen Konsens notwendig seien.

Eine Fussnote entlarvt den angeblichen Bottom-up-Ansatz der Konferenz als Farce. Quelle: Verfahrensregeln der Konferenz zur Zukunft der EU.

Auch wenn die Konferenz auf gute Ideen und Lösungen stossen und sich die Vollversammlung mit einem Konsens (!) dahinter stellen sollte: Ohne Unterstützung vonseiten der nationalen Regierungen wird am Ende nichts umgesetzt. Die nationalen Regierungen haben bisher alles versucht, der Konferenz so wenig Spielraum wie möglich zu geben. Es ist nicht klar, weshalb sie ihre Meinung plötzlich ändern sollten.

4. Was bringts? (Optimistische Version)

Dass es überhaupt eine Konferenz zur Zukunft Europas gibt, ist ein grosser Fortschritt. Es scheint sich ein Konsens durchzusetzen, dass Europa sich verändern muss, um in einer veränderten Welt zu bestehen. 

Die langwierigen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Rat, Kommission und Parlament mögen kleinlich wirken, aber die daraus resultierende Dreifach-Führung könnte sich als Chance entpuppen.

Dass keine einzelne Institution den Prozess dominiert, stärkt den Einfluss der Vollversammlung und der Bürgerinnen-Panels. Es könnte sich eine Eigendynamik entwickeln. Die Präsidentschaft hätte Mühe die Kontrolle über die Entwicklung zu behalten, weil sie sich selbst nicht einig ist.

Noch mehr Werbung für die Konferenz zur Zukunft Europas vor dem Europäischen Parlament in Brüssel.

In einem Jahr, wenn die Konferenz ihre Schlussfolgerungen an den Europäischen Rat übergibt, dürften sich auch die politischen Verhältnisse in den europäischen Regierungen verändert haben. Es ist gut möglich, dass die stark pro-europäischen Grünen die neue deutsche Bundeskanzlerin stellen. Genauso vorstellbar ist ein frisch wiedergewählter Emmanuel Macron, der wahltaktische Überlegungen für eine gewisse Zeit hintenanstellen kann.

Wenn sich zu solchen Machtverhältnissen noch ein solider, post-pandemischer Wirtschaftsaufschwung gesellt, könnten die seltenen Umstände gegeben sein, um ambitionierte europäischen Reform-Ideen umzusetzen. 

Zusatzinformationen: Der Professor für EU-Recht Alberto Alemanno argumentiert in diesem Beitrag (auf französisch), weshalb die Konferenz zur Zukunft Europas zu überraschenden Veränderungen führen könnte.

5. Ist die Konferenz relevant für die Schweiz?

Ob die Konferenz zur Zukunft Europas auch für die Schweiz relevant wird, hängt davon ab, ob die optimistische oder die pessimistische Version eintrifft. Sollte die Konferenz zu einem europäischen Integrationsschritt führen, wirkt sich das auch auf die Schweiz aus. Jeder Integrationsschritt, den die Schweiz nicht mitmacht, ist auch ein Schritt, der die EU von der Schweiz distanziert.

Unabhängig davon, wie gross dieser Integrationsschritt wird, muss die Schweizer Politik sich bewusst sein, dass die EU sich in einem Veränderungsprozess befindet. Die Unfähigkeit, diese Veränderungen wahrzunehmen, hat wesentlich zur Blockade in den Verhandlungen um das Rahmenabkommen beigetragen. Während sich die Schweiz um ihre roten Linien kümmerte, ignorierte sie die Folgen des Brexits auf die Haltung der EU gegenüber Drittstaaten.

Es ist bezeichnend, dass es in der Schweizer Politik scheinbar niemandem in den Sinn gekommen ist, dass man sich in die Debatte um die Zukunft Europas einbringen könnte.

SP-Präsident Cédric Wermuth erklärte in seiner Rede an der SP-Delegiertenversammlung vom 8. Mai, weshalb die SP sich gegen das vorliegende Rahmenabkommen positionierte. Man wolle “mehr Europa, aber auch ganz entschieden anders.” Die Konferenz zur Zukunft Europas garantiert kein anderes Europa. Aber sie ist aktuell vielleicht die vielversprechendste Möglichkeit, dieses andere Europa zu erreichen.

6. Wie kann ich mich einbringen?

Die online Plattform, auf der die Konferenz Ideen sammelt, ist für alle zugänglich. Auch als Nicht-EU-Bürgerin kannst du dich registrieren und deine eigenen Ideen formulieren oder durch die Ideen anderer Europäerinnen scrollen. Wenn du nur lesen willst, musst du dich nicht registrieren.

Die Plattform ist vielsprachig. Solange du eine der 24 offiziellen Sprachen der EU sprichst, kannst du dich an der Diskussion beteiligen. Die Plattform übersetzt alle Vorschläge und Kommentare automatisch in die übrigen Sprachen. 

Wer durch die Ideen und Kommentare scrollt, merkt: Es scheint auf der Plattform tatsächlich so etwas wie eine paneuropäische Diskussion zu geben. Laut Angaben der Webseite haben bisher knapp 12’000 Personen an der Diskussion teilgenommen und knapp 2’800 Ideen wurden eingereicht. 

Wohin die Diskussion führt, wird das kommende Jahr zeigen. Vorerst gilt: Nützts nüt, so schads nüt.

PS: Willst du dir die Ideen ansehen oder selber eine einreichen? Hier geht es zur Plattform. Falls du etwas interessantes oder lustiges auf der Plattform erlebst, schreib mir doch eine Mail auf janos.ammann@hauptstadt-bericht.eu.