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Gründe für europapolitischen Optimismus

Es gibt Anzeichen für eine bessere Europapolitik. Wenn man sie sehen will.

Gründe für europapolitischen Optimismus
Gründe für europapolitischen Optimismus
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Gewiss, das Scheitern des Rahmenabkommens ist ein eklatantes Versagen der politischen Führung und vielleicht sogar des Regierungssystems in der Schweiz. Gewiss, die Schweizer Wirtschaft, Forschung und Bildung werden unter der Erosion der bilateralen Verträge leiden. Gewiss, die Schweiz hat sich in einer Zeit geopolitischer Polarisierung sehr viel Goodwill bei ihrer mit Abstand wichtigsten Partnerin verspielt.

Aber…

Wer genau hinschaut, sieht über dem frisch zugeschütteten Grab des Rahmenabkommens auch erste Keimlinge einer besseren Europa-Politik. Es gibt keine Garantie, dass sie überleben und aufblühen werden, aber in der allgemeinen Katastrophenstimmung kann ein wenig Aufmunterung nicht schaden.

Die SP ruft nach einem sozialeren Europa

Die Sozialdemokratie hat das Rahmenabkommen gemeinsam mit Europa-Skeptikerinnen zu Fall gebracht. Die Video-Statements von Mattea Meyer und Cédric Wermuth als Antwort auf den Verhandlungsabbruch können nicht verbergen, wie unangenehm der SP ihre unheilige Allianz mit den EU-Skeptikerinnen ist. Beide betonten, dass die Rechten für das Scheitern des Rahmenabkommens verantwortlich seien.

Meyer und Wermuth sprachen sich für mehr Europa aus und beteuerten, sich für ein sozialeres Europa einzusetzen. Wie sie das machen wollen, ist noch unklar. Aber eine Diskussion darüber, wie die Schweiz Europa gestalten kann, wäre sicher eine spannendere und vielleicht auch produktivere Diskussion als die bisherige. 

Den ersten Reaktionen von SP-Exponentinnen nach zu urteilen, dürfte die SP auch den EU-Beitritt wieder ins Spiel bringen. Der Tod des Rahmenabkommens öffnet den Diskussionsraum auf alle Seiten.

Politwissenschaftlich höchst akkurate Darstellung des möglichen Diskussionsraums aus einem früheren Beitrag.

Die Grünen koordinieren sich europäisch

Die Grünen waren lange kaum zu vernehmen in der Schweizer Europapolitik. Erst kürzlich positionierten sie sich überraschend klar für das Rahmenabkommen.

In Zukunft ist mehr europapolitisches Engagement von den Schweizer Grünen zu erwarten, zumal sie auch ihre Zusammenarbeit mit den europäischen Grünen verstärkt haben. Die europäischen Grünen zeichnen sich in Brüssel als die wohl integrationsfreundlichste Fraktion aus.

Wenn die Zusammenarbeit der schweizerischen und der europäischen Grünen sich weiter intensiviert, dürften die Schweizer Grünen vermehrt europäische Themen aufgreifen. Sie könnten über ihre europäische Fraktion zum Beispiel Themen des European Green Deals oder der europäischen Digitalpolitik in die Schweizer Diskussion einbringen. Sie könnten somit zu einem differenzierteren Bild der Europapolitik in der Schweiz beitragen.

Neue Argumente werden möglich

Das Rahmenabkommen war ein technokratisches, pragmatisches Abkommen, das vor allem mit seinen Vorteilen für die Wirtschaft beworben wurde. Dieser Pragmatismus hatte es schwer, gegen emotionale Patrioten-Rhetorik zu bestehen. Die meisten Menschen treffen ihre politischen Entscheide mit Herz und Bauch, nicht mit dem Taschenrechner. 

Als sich dann mehrere Vertreterinnen der Wirtschaft gegen das Rahmenabkommen stellten, verlor das wichtigste Argument für das Rahmenabkommen an Glaubwürdigkeit. 

Es ist klar, dass sich die Schweizer Europapolitik in Zukunft nicht nur durch ihre Vorteile für die Wirtschaft legitimieren kann. Das heisst, sie muss neue Wege suchen. 

Die Schweizer Europapolitik kann die Frage ins Zentrum rücken, wer in einer für die Demokratie unsicher gewordenen Welt die beste Partnerin ist.

Vor allem muss sie die Frage der Souveränität frontal angehen. Wer ist am handlungsfähigsten im heutigen Europa? Vieles spricht dafür, dass es die nationalen Regierungen von EU-Mitgliedstaaten sind. Wenn es dem Schweizer Volk um Souveränität geht, sollte es vielleicht versuchen, die Kontrolle über so ein Exemplar zu gewinnen. 

Niemand ist zufrieden

Ausser die SVP ist keine Schweizer Partei glücklich mit dem Scherbenhaufen. Die europapolitischen Schlafwandler sind aufgewacht. Wenn die obligatorische Runde der gegenseitigen Schuldzuweisungen vorbei ist, könnte diese kollektive Unzufriedenheit zu einem Umdenken führen. 

Vielleicht realisiert die FDP, dass es vergebene Liebesmüh ist, in der Europapolitik die SVP zufriedenstellen zu wollen. Wenn sie es nicht realisiert, dürfte sie Wählerinnen an die GLP verlieren. Das erste Indiz, dass ein Umdenken bevorsteht: Sogar die NZZ schreibt, dass wirtschaftsnahe Wählerinnen durch eine GLP-Bundesrätin besser vertreten wären als durch die FDP-Vertretung.

Die unzufriedenen Europa-Freunde beraten über eine Volksinitiative. Jahrelang schafften sie es nicht, ihr Herzensthema in das Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung zu bringen. Das hatte damit zu tun, dass der Bundesrat so lange zögerte und unklar kommunizierte. Es lag aber auch daran, dass jedem das Gesicht einschlief, der sich mit dem Inhalt des Rahmenabko…

Huch! Wie gesagt: Nun haben die Pro-Europäerinnen die Möglichkeit, ihrem Thema endlich die Öffentlichkeit zu geben, die sie sich wünschen.

Neuanfang

Die Keimlinge für eine bessere Europa-Politik sind klein und zart. Vielleicht werden sie bald von der Schaufel der Totengräber des Rahmenabkommens erdrückt. Vielleicht verfaulen sie in der Schlammschlacht der gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dennoch sollten sie versuchen, das freie Feld für einen Neuanfang zu nutzen.