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EU verstehen Wirtschaft und Finanzen

Dumme Diät: Die EU-Fiskalregeln brauchen eine Reform.

Die Fiskalregeln der EU sind mitverantwortlich für die bereits ein Jahrzehnt dauernde Wirtschaftskrise in Südeuropa. Kann die EU das Ruder nun herumreissen?

In diesen Tagen fliessen die ersten Milliarden des EU Wiederaufbaufonds in die EU-Mitgliedstaaten. Viele Ökonominnen und Pro-Europäerinnen feierten den Wiederaufbaufonds vor einem Jahr als wichtigen Schritt für die Wirtschaftspolitik der EU: Zum ersten Mal nahmen die EU-Staaten gemeinsam Schulden auf, um Mitgliedstaaten zu unterstützen, die besonders hart von der Pandemie betroffen waren.

Der Wiederaufbaufonds ist wichtig, aber er ist nur ein temporäres Instrument. Hinter ihm lauert das alte EU-Regelwerk für öffentliche Finanzen, das die europäische Wirtschaft mit sich selbsterfüllenden Prophezeiungen ins Verderben treibt. 

Oder etwas weniger dramatisch: Im Regelwerk für öffentliche Finanzen nimmt die EU-Kommission die Rolle eines übergriffigen Ernährungsberaters ein. 

Der Ernährungsberater gibt seinen Athletinnen einen strikten Ernährungsplan vor. Basierend auf der Anzahl wöchentlicher Trainings und der bisherigen Leistung der Athletin errechnet er ein Leistungspotenzial und die dafür notwendige Kalorienzahl. Die Athletin darf die Kalorienzahl nicht überschreiten, denn der Ernährungsberater nimmt an, dass dies die Athletin langfristig schwerfällig macht. Einen Beweis dafür hat er nicht, aber es ist halt seine Annahme.

Die italienische Athletin leidet besonders unter den Berechnungen des Ernährungsberaters. Seit sie in nach einer Krise vor zehn Jahren ihre Trainings reduzieren musste und von ihrem Trainer auf eine Diät gesetzt wurde, kommt sie nicht mehr richtig in Schwung. 

Die Kalorien wurden so stark gesenkt, dass die Italienerin nur noch Energie für zwei wöchentliche Trainings hat – nicht zu vergleichen mit den fünf Trainings, welche die deutsche Athletin jede Woche absolvieren kann. 

Die italienische Athletin beklagt sich oft beim Ernährungsberater, aber dieser scheint nicht zu verstehen, dass seine Leistungsprognosen sich selbst erfüllen. Er folgt strikt seinem Modell: Die Italienerin trainiert zweimal pro Woche und zeigt entsprechend mässige Resultate im Rennen.  Angesichts dieses beschränkten Leistungspotenzials braucht sie maximal 1800 Kalorien. Mehr wäre langfristig ungesund, denkt der Ernährungsberater.

So bleibt die italienische Athletin in ihrem Teufelskreis aus schlechten Leistungen, wenig Energie,seltenen Trainings und wieder schlechten Leistungen gefangen

Was sich anhört wie die Geschichte eines unfähigen Ernährungsberaters, ist die Realität des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakts. 

Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt kontrolliert die EU die öffentlichen Finanzen ihrer Mitgliedstaaten. Mittlerweile berühmt sind die sogenannten Maastricht-Kriterien. Sie besagen, dass die Staatsschulden von EU-Mitgliedstaaten 60% ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung nicht übersteigen dürfen und dass das jährliche Defizit maximal 3% der Wirtschaftsleistung betragen darf. 

Info-Box: Weshalb der Fokus auf den Staatsschuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung wenig Sinn macht, habe ich in diesem Beitrag erläutert.

Im Zuge der Eurokrise kamen zusätzliche Kriterien hinzu. So darf das strukturelle Defizit 0.5% der Wirtschaftsleistung nicht übertreffen. Das strukturelle Defizit ist das Defizit des Staatsbudgets, nachdem es um zyklische Faktoren bereinigt wurde.

Zyklische Faktoren? Die Theorie des Geschäftszyklus nimmt an, dass die Wirtschaft ein bestimmtes Leistungspotenzial hat. Wenn die Wirtschaft über ihrem Potenzial leistet, spricht man von einer überhitzten Wirtschaft. In diesem Fall sollte der Staat Geld aus dem System nehmen, indem er mehr einnimmt als ausgibt. Wenn die Wirtschaft unter ihrem Potenzial leistet, spricht man von einer Output-Lücke (Potenzielles BIP – Tatsächliches BIP = Output-Lücke). In diesem Fall kann der Staat Geld in die Wirtschaft pumpen, indem er mehr ausgibt als einnimmt und so ein Defizit schreibt.

Wieviel der Staat zusätzlich ausgeben kann, hängt von der Grösse der Output-Lücke ab. Und diese Grösse hängt von der Höhe der potenziellen Wirtschaftsleistung ab. Und die potenzielle Wirtschaftsleistung… nun ja… ist eine Schätzung. 

Eine Schätzung bestimmt, ob und wieviel Defizit ein EU-Mitgliedstaat machen kann. 

Das ist nichts Neues. Wirtschaftspolitik muss mit Schätzungen arbeiten. Das Problem bei der EU-Finanzpolitik sind die Annahmen, auf welchen diese Schätzungen basieren. 

Die EU-Kommission schätzt die potenzielle Wirtschaftsleistung anhand von Daten aus der näheren Vergangenheit. Sie (bzw. ihr Modell) fragt sich: Was ist eine normale Arbeitslosenquote in Italien? Das Modell schaut in die vergangenen Jahre und spuckt eine Zahl aus, mit der die mögliche Wirtschaftsleistung berechnet wird. Die Arbeitslosenquote in Italien fiel zwischen 2011 und 2018 nie unter 10%. Das heisst, das Modell der EU-Kommission erachtet eine sehr hohe Arbeitslosigkeit in Italien als gegeben. 

Folglich darf Italien die Wirtschaft nicht durch Staatsausgaben ankurbeln und bleibt auf der hohen Arbeitslosigkeit sitzen. Das führt neben grossem menschlichem Leid auch zu hohen Sozialausgaben – im Namen der Budgetdisziplin.

Info-Box: Für eine detailliertere, technische Erklärung sei dieser Artikel von Ökonom Philipp Heimberger empfohlen.

Die Wirtschaft Italiens aber auch jene Spaniens und Griechenlands leiden seit zehn Jahren an einer europäischen Zwangsdiät. 

Es brauchte eine weltweite Pandemie, um Linderung zu bringen. Denn als Reaktion auf die Pandemie wurde nicht nur ein für europäische Verhältnisse grosses Rettungspaket geschnürt, auch die Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurden bis und mit 2022 ausgesetzt. 

In der Zwischenzeit will die EU-Kommission den Stabilitäts- und Wachstumspakt reformieren. Sie hat realisiert, dass ihr Modell fehlerhaft ist. Zu Beginn des Jahres sprach sich EU-Kommissar Valdis Dombrovskis deshalb für ein Modell aus, das mehr öffentliche Investitionen zulässt und das nicht mehr mit Output-Lücken arbeitet.

Pola Schneemelcher und Philippa Sigl-Glöckner vom finanzpolitischen Thinktank Dezernat Zukunft schlagen vor, dass der Pakt sich nicht mehr primär an der Verhinderung eines Haushaltsdefizit orientieren soll. Stattdessen soll das Ziel ein voll ausgelasteter Arbeitsmarkt sein. Dies würde nicht nur die Wirtschaft und somit Steuereinnahmen ankurbeln, sondern auch Sozialwerke entlasten.

An Reform-Ideen mangelt es nicht. Aber die Umsetzung gestaltet sich anspruchsvoll, denn eine Reform braucht die Zustimmung der nationalen Regierungen. Acht nationale Regierungen, darunter besonders lautstark jene Österreichs, haben sich bereits jetzt für eine baldige Rückkehr zu den Regeln ausgesprochen.

Der Erfolg der Reform hängt unter anderem davon ab, wie sich eine neue deutsche Regierung positionieren wird. Der aktuelle Favorit für das Kanzleramt, Olaf Scholz, gab sich bisher zurückhaltend. Südeuropa hofft, dass er mithilft den übergriffigen Ernährungsberater in seine Schranken zu verweisen. Nur so kann die europäische Wirtschaft wieder ihr tatsächliches Leistungspotenzial entfalten.