
Seit Beginn dieses Sommers ist klar: Die Schweiz bleibt vorerst aus EU-Programmen wie Erasmus+ und Horizon Europe ausgeschlossen. Beim Bildungsprogramm Erasmus ist die Schweiz schon seit 2014 nicht mehr dabei, aber dass sie beim Horizon Forschungsprogramm schlechter gestellt ist als andere Drittstaaten, zeigt eine neue Qualität im europäischen Umgang mit der Schweiz.
Die Nicht-Assoziation der Schweiz am EU-Forschungsprogramm bringt in der Substanz niemandem etwas. Die Schweiz verliert den Zugang zu wichtigen Forschungsprojekten und den damit assoziierten Forschungsgeldern, während die EU den Zugang zu Universitäten verliert, die zu den besten Europas gehören. Das ist auch der Grund weshalb sich europäische Forschungsinstitute für eine Schweizer Teilnahme bei Horizon Europe einsetzen.
Aber die Substanz ist in der Politik immer zweitrangig. Zuerst geht es um Macht. Und Macht muss immer wieder demonstriert werden, damit man ihr glaubt. Nur wenn man ihr glaubt, entfaltet sie ihre Wirkung. Darum darf die Machtdemonstration auch etwas kosten – zum Beispiel eine marginal weniger leistungsfähige europäische Forschungslandschaft.
Im Zuge ihrer Politisierung lernt die EU, sich der Machtpolitik zu bedienen. Und die Schweizer Politik hat noch nicht verstanden, darauf zu reagieren. Sie baut auf der korrekten Annahme, dass die EU ein Interesse an einem guten Verhältnis mit der Schweiz habe. Dabei blendet sie aber aus, dass das überragende Interesse der EU ihre eigene Existenz ist und deshalb keinem Nichtmitglied Extrawürste zugestehen kann, die ihren Mitgliedern nicht zustehen.
Indem die EU die Schweiz nun bei Horizon Europe schlechter behandelt als andere Drittstaaten, hat sich die EU-Kommission für eine Machtdemonstration entschieden. Die EU wird gerne als Regel-gebundene Gemeinschaft beschrieben, aber wenn sie es für nötig hält, kann sie vom Prinzip der Gleichbehandlung abweichen. Das ist Ausdruck ihrer zunehmenden Souveränität.
Im Kontrast dazu steht die Schweiz, welche die Verhandlungen zum Rahmenabkommen unter Berufung ihrer Souveränität abgebrochen hat. Die daraus resultierende Situation sieht nicht sehr souverän aus.
Der Bundesrat hat angekündigt, mit dem “Stabilex”-Programm EU-Recht autonom zu übernehmen. Die im Rahmenabkommen kritisierte Rechtsübernahme findet also mehrheitlich trotzdem statt. Gleichzeitig beklagt der Bundesrat sich, dass die EU zum Beispiel bei Horizon Europe sachfremde Geschäfte miteinander verknüpft, um Druck auf die Schweiz auszuüben.
Beklagen kann er sich, aber der Bundesrat hat keinen Hebel, um die EU zum Einlenken zu zwingen. Er hat keinen Zugang zu einem Gericht, das die Machtdemonstration der EU-Kommission unterbinden könnte. Der Bundesrat hat sich für eine schweizerisch-europäische Beziehung entschieden, die einer Machtlogik anstatt einer rechtlichen Logik folgt.
Der Historiker Joseph de Weck argumentiert in einem kürzlich erschienenen Buch über Emmanuel Macron, dass die EU sich unter anderem durch Macrons Führung zu einem “Machteuropa” entwickelt. Nur wenn Europa die Sprache der Macht zu sprechen lernt, kann es die Freiheit und Sicherheit seiner Bürgerinnen in einer unsicheren Welt gewährleisten, so Macrons Überlegung. Er hält es für notwendig, eine stärkere Grenze zwischen innen und aussen, zwischen “wir” und “sie” zu ziehen. Gegen innen muss die EU ihren Wert für alle Mitglieder beweisen, gegen aussen will sie sich durch mehr Härte Respekt verschaffen.
Oft sieht die EU dabei noch ziemlich unbeholfen aus. In Afghanistan hing die europäische Evakuation vollständig von den USA ab. Auch gegen Autokraten in Russland, China und der Türkei gibt die EU kein starkes Bild ab. Ihre Härte gegen aussen spüren Flüchtlinge, die sich nicht wehren können, und das Vereinigte Königreich, gegenüber dem die EU einen wirksamen Hebel in der Hand hat.
Mit dem Nein zum Rahmenabkommen hat der Bundesrat einen grossen Schritt von innen nach aussen gemacht. Und die EU will, dass die Schweiz das spürt. Der Ausschluss aus Horizon Europe war ein Willkommensgruss in Machteuropa.
Im Bundesrat schien diese Nachricht zunächst nur bedingt angekommen zu sein. Das zeigen zwei grosse Beschaffungsprojekte, bei denen sich der Bundesrat am Anfang des Sommers gegen europäische Anbieter entschieden hat. Beim Kampfjet kauft er amerikanisch und die Cloudlösung für die Bundesverwaltung soll chinesisch sein.
Der Bundesrat beteuerte, dass er auf das beste Preis-Leistungsverhältnis geschaut und sich an den WTO-Regeln für öffentliche Beschaffungen orientiert habe. Das ist gut möglich und in einer Regel-gebundenen EU von vor 10 Jahren wäre diese Begründung wohl auch akzeptiert worden. Aber in einem Machteuropa, das stärker zwischen “wir” und “sie” unterscheidet, sind nicht mehr zwingend die Regeln entscheidend, sondern die Loyalität: Bist du mit uns oder gegen uns?
Die Schweiz wird diese Frage früher oder später beantworten müssen.