Janos, du bist seit sechs Monaten in Brüssel.
Halt, stopp. Wer bist du?
Ich bin du. Ich bin eine Kunstfigur, die du aus dem Hut gezaubert hast, damit du den Text als Dialog gestalten kannst.
Eine Kunstfigur? Was für ein Freak.
Selber Freak! Können wir jetzt anfangen?
Also gut, fang an.
Wunderbar. Also: Du wolltest herausfinden, wie Europa funktioniert. Jetzt sind sechs Monate verstrichen. Hast du es herausgefunden?
Nicht wirklich. Viele Entscheidungen auf EU-Ebene sind sehr schwierig einzuschätzen.
Für dich EU-Grünschnabel vielleicht!
Ja, aber nicht nur. Auch erfahrene EU-Analystinnen scheinen oft nicht sofort zu wissen, wie Entscheidungen zu bewerten sind.
Klar, das sind 100-seitige Dokumente, die analysiert werden müssen. Das geht nicht ruckzuck.
Die Komplexität der Themen und die etwas umständlichen, juristischen Formulierungen mögen Teil des Problems sein. Aber ich denke es geht um mehr. Ich denke, man kann im Moment der Entscheidung noch gar nicht wissen, was genau entschieden wurde.
Hä?
Schau, in einem etablierten politischen System wie der Schweiz ist klar, wie ein neues Gesetz verabschiedet wird. Wenn ein Vorschlag im Nationalrat und Ständerat eine Mehrheit findet, wird er Gesetz.
Woher diese Vorschläge jeweils kommen, fragt man sich aber schon ab und zu…
Lenk mich nicht ab. Der Punkt ist: Wenn ein Gesetz beschlossen wurde, setzt die Regierung es um. Und wenn sich jemand nicht an das Gesetz hält, kann die Regierung die Einhaltung notfalls per Gewaltmonopol erzwingen.
Gewaltmonopol? Heisst das, die Regierung schlägt mich?!
Im Notfall, ja. Aber dazu kommt es nicht. Denn in einem etablierten System mit Gewaltmonopol wie der Schweiz ist klar, wo de Bartli de Moscht holt. Es ist so klar, wie das System funktioniert, dass die Autorität eines Gesetzes nicht getestet wird. Es kann auf gesetzlich vorgeschriebenen Wegen bekämpft, aber es kann nicht ignoriert werden.
Und in der EU ist das anders?
Genau! Dort ist eben noch nicht ganz klar, wo der Bartli de Moscht holt.
Aber die Verträge geben doch genau vor, wie Entscheidungen zu treffen sind und ab wann sie gültig sind?
Ja, aber in der EU hat niemand ein Gewaltmonopol. Die EU-Kommission kann keine EU-Polizistinnen nach Ungarn schicken, wenn Viktor Orbán sich nicht an die Regeln hält.
Heisst das, die EU hat keine Autorität? Ist sie nur ein überressourciertes G27-Forum für europäische Regierungen?
Nein, natürlich gibt es Autorität in der EU. Es ist nur viel schwieriger herauszufinden, wie die Autorität zwischen den verschiedenen Akteuren verteilt ist. Unter anderem weil die Akteure es selbst nicht immer wissen.
Wieso wissen es die Akteure selbst nicht?
Weil Autorität so ein verflixtes Ding ist! Jede hat nur soviel Autorität, wie die anderen ihr gewähren oder sie sich selbst physisch erzwingen kann. Und weil in der EU niemand das Gewaltmonopol hat, funktioniert das mit dem physischen Zwang nicht. Bleibt also die Autorität, die sich die Akteure gegenseitig gewähren.
Gib mir ein Beispiel!
In einer Entscheidung von 1963 bestimmte der Europäische Gerichtshof, dass EU-Recht (damals Gemeinschaftsrecht) über nationalem Recht steht. Das stand nicht explizit in den EU-Verträgen (damals der Vertrag von Rom) und ein Vertrag wäre so formuliert wohl kaum je unterzeichnet worden. Die Begründung des Gerichts beruhte auf dem Geist des Vertrags und machte durchaus Sinn (soweit ich Nicht-Jurist das beurteilen kann). Aber es war ein Bluff und eine Selbstermächtigung sondergleichen. Mit der Einführung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts katapultierte sich das Gericht als dessen ultimative Richterin nämlich selbst an die Spitze der europäischen Rechtsordnung.
Und weshalb war es ein Bluff?
Nun, die nationalen Regierungen hätten dem Gerichtshof einfach den Vogel zeigen und das Urteil ignorieren können. Der Gerichtshof hatte keine Polizei, die es für die Vollstreckung ihres Urteils hätte einsetzen können. Aber die Regierungen akzeptierten den Entscheid. Sie gewährten dem europäischen Recht und seinem Gerichtshof die Autorität, nach der es gegriffen hatte. Der Bluff ging auf. Heute orientieren sich Tausende Gerichte in ganz Europa mit der grössten Selbstverständlichkeit an der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs.
Ok, aber kommt es auch vor, dass ein Bluff nicht aufgeht? Und hast du vielleicht ein aktuelleres Beispiel als 1963?
Wie es der Zufall will, habe ich genau ein solches Beispiel zur Hand. Nach der Flüchtlingskrise vom Sommer 2015 schlug die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker vor, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet werden sollte, eine gewisse Mindestanzahl an Geflüchteten aufzunehmen. Diese Einmischung der EU wollten sich die Regierungen Ungarns, Tschechiens, Rumäniens und der Slowakei nicht bieten lassen. Im EU-Rat wurden diese Länder jedoch überstimmt. Nach der Zustimmung des Parlaments stand die Entscheidung und hätte umgesetzt werden müssen. Doch die Regierungen weigerten sich, die Entscheidung umzusetzen. Und Juncker konnte nichts dagegen tun. Sein Bluff wurde aufgedeckt.
Stell dir vor es ist Flüchtlingsverteilung und niemand verteilt Flüchtlinge.
Oh, come on, das ist deplaziert.
Sorry. Aber ich glaube, ich verstehe was du meinst.
Ha. Gut. Ich verstehe es nämlich immer noch nicht ganz.
Und was hat das jetzt mit den vergangenen sechs Monaten zu tun und mit deiner Unterstellung, dass selbst EU-Expertinnen Mühe haben, die Bedeutung von EU-Entscheidungen einzuschätzen?
Weil die EU sich ständig verändert und oft unklar ist, welcher Akteur in welchem Thema mit welcher Autorität auftritt, sind Einschätzungen so schwierig. Ein Beispiel aus dem vergangenen Halbjahr ist die Rechtsstaatlichkeitsklausel.
Was für ein Klaus?
Die Rechtsstaatlichkeitsklausel. Das europäische Parlament, die Kommission und viele Mitgliedstaaten wollen EU-Gelder stärker an Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit knüpfen. Mitgliedstaaten, die ihre Demokratie untergraben und rechtsstaatliche Prinzipien über Bord werfen, sollen keine oder weniger EU-Gelder erhalten.
Klingt vernünftig.
Jep. Ist aber super kontrovers. Denn die Regierungen Ungarns und Polens wehren sich mit aller Kraft dagegen. Am EU-Gipfel im Juni, an dem das grosse Rettungspaket verabschiedet wurde, sollte auch eine Entscheidung über die Rechtsstaatlichkeitsklausel fallen. Und tatsächlich: nach vier Tagen und vier Nächten einigten sich die EU-Staatschefinnen auf einen Text.
Ok, wo liegt das Problem?
Nun, kennst du die Situation, in der du schon seit vier Stunden in einer Vorstandssitzung sitzt und ein sehr kontroverses Thema mit einer Formulierung entschieden wird, die allen mehr oder weniger recht ist, die aber bei genauerer Betrachtung gar keine richtige Entscheidung ist, sich aber niemand wehrt, weil schon bald Mitternacht ist und alle nur noch schlafen wollen?
Nein, diese Situation kenne ich nicht.
Ich auch nicht. Aber so stelle ich es mir vor. Nur dauerte die Sitzung im Juli schon vier Tage und Nächte statt vier Stunden. Deshalb einigten sie sich auf etwas, was jede so interpretieren konnte, wie sie wollte. Im ersten Moment denkt man sich…
Juhu! Es gibt eine Einigung!
Dann schaut man genauer hin und überlegt sich…
Hmm, was heisst das nun genau?
Dann merkt man, dass sich die meisten über die Bedeutung uneinig sind, was heisst, dass es eigentlich noch keine Einigung gibt und dass bald die nächsten Verhandlungen anstehen, nach denen es wieder heisst..
Juhu! Es gibt eine Einigung!
Genau. Du hast es begriffen.
Ja. In der EU wird man sich nicht einig.
Nein! Nichts hast du begriffen. Man muss sich immer wieder einigen. Weil es so viele Veto-Möglichkeiten gibt und niemand die Autorität hat, eine Entscheidung durchzudrücken, aber auch niemand ein Interesse an der totalen Blockade hat, machen die Entscheidungen manchmal nur Baby-Schritte.
Ok. Und was hat das jetzt schon wieder mit dem rechten Klaus zu tun?
Ach ja, die Rechtsstaatlichkeitsklausel: Nach der Einigung im Europäischen Rat ging der Vertreter des Europäischen Rats in die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament. Dieses drohte, den ganzen mehrjährigen Finanzrahmen zu blockieren, wenn die Klausel nicht verschärft würde und konnte sich so eine kleine Verschärfung der Klausel heraushandeln. Das wiederum passte den Regierungen Polens und Ungarns nicht. Die anderen Mitglieder des Europäischen Rats konnten Polen und Ungarn nur zur Zustimmung bringen, weil sie der Entscheidung noch eine zusätzliche “politische Erklärung” anfügten. In dieser Erklärung steht, dass die Rechtsstaatlichkeitsklausel erst dann eingesetzt werden soll, wenn der Europäische Gerichtshof sie für gültig erklärt hat. Der Europäische Gerichtshof wird darüber entscheiden, weil die Regierungen Ungarns und Polens die Klausel gerichtlich prüfen lassen wollen.
Kann der Europäische Rat denn so eine Verzögerung einfach bestimmen, wenn das europäische Parlament nicht zugestimmt hat?
Von einem rechtlichen Standpunkt aus eigentlich nicht und darum regt sich das Parlament auch gehörig darüber auf. Die Deklaration ist rechtlich nicht bindend. Die Kommission könnte also ab dem 1. Januar 2021 die Kürzung von EU-Geldern vorschlagen. Damit die EU-Gelder aber gekürzt werden – so sieht es die Rechtsstaatlichkeitsklausel vor – muss der Rat dies noch mit qualifizierter Mehrheit bestätigen.
Oh…
Genau. Solange der Rat sich an die politische Deklaration halten will, kann niemand die Rechtsstaatlichkeitsklausel anwenden.
Dann ist schlussendlich also doch nichts passiert!
Doch. Es ist nur nicht so viel passiert, wie wünschenswert gewesen wäre. Dennoch hat die EU sich mit der Rechtsstaatlichkeitsklausel eine zusätzliche Kompetenz geschaffen. Vorher waren die Mitgliedstaaten alleine zuständig für ihre rechtsstaatliche Situation. Niemand konnte sich einmischen. Jetzt kann der Rat einen Mitgliedstaat mit qualifizierter Mehrheit mit Geld-Entzug bestrafen.
Aber im Rat sitzen doch die Mitgliedstaaten!
Ja, aber als EU-Gremium. Die Autorität bleibt bei den Mitgliedstaaten, aber beim Kollektiv der Mitgliedstaaten, statt beim einzelnen Mitgliedstaat. Das sieht man in vielen Bereichen der EU. Die Mitgliedstaaten haben in der EU immer noch sehr viel zu sagen, aber eben als Kollektiv statt einzeln. Die Nationalstaaten werden nicht überwunden. Stattdessen finden sie eine gemeinsame Stimme. Oder sie suchen diese gemeinsame Stimme immerhin. Ein Chor ohne Dirigentin. Und das ist, was die EU so aufregend macht.
Du meinst kompliziert.
Aufregend! Was die EU versucht, wurde so noch nie probiert. Staatsgebilde werden eigentlich nicht so gebaut. Schau dir zum Vergleich mal die Gründung der Schweiz an.
Den Rütlischwur?
Nein, die Gründung des modernen Bundesstaats 1848. Da war auch vieles neu und ungewiss. Neue staatliche Strukturen wurden aus dem Boden gestampft. Aber immerhin war die Frage der Autorität geklärt. Die Liberalen hatten gerade den Bürgerkrieg gewonnen, gestalteten den Bundesstaat nach ihrem Gusto und regierten diesen in den ersten Jahrzehnten im Alleingang.
Und?
In der EU gibt es diese dominante Kraft nicht! Das macht sie so widersprüchlich und frustrierend, aber auch so unberechenbar und spannend. Vielleicht kann man gar nicht wirklich verstehen, wie Europa funktioniert.
Ok, und was machst du jetzt?
Ich schreibe weiter am Hauptstadt-Bericht.
Wieso?
Ich will herausfinden, wie Europa funktioniert!