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EU verstehen

Weshalb die EU überleben wird

Vier Gründe für einen verhalten positiven Ausblick auf die Zukunft der EU.

Weshalb die EU überleben wird.

Im letzten Beitrag des Hauptstadt-Berichts schrieb ich darüber, weshalb die EU scheitern wird. Ich hinterfragte damit meine eigene Annahme, dass die EU überleben und die europäische Integration sogar noch voranschreiten wird. Aber worauf basiert diese Annahme?

Nach den vier Gründen, weshalb die EU scheitern wird, präsentiere ich hier vier Gründe weshalb sie stärker wird.

Handlungsfähigkeit in der globalisierten Welt

In einer Welt mit global mobilem Kapital stehen die einzelnen Staaten in einem Wettbewerb um produktive Investitionen. Dieser Wettbewerb setzt Staaten unter Druck, möglichst attraktive Bedingungen für Investorinnen zu schaffen. Auf die grössten Staaten wirkt dieser Druck kaum. Der Markt der USA, beispielsweise, ist attraktiv genug, um Investitionen anzulocken, egal welche Bedingungen die US-Politik stellt. Aber kleine und mittelgrosse Staaten verlieren durch den Wettbewerbsdruck an Handlungsfähigkeit, beziehungsweise an Souveränität. 

Indem die kleinen und mittelgrossen Staaten Europas ihre Marktkraft bündeln, holen sie sich die verlorene Souveränität gemeinsam wieder zurück. Durch die EU können kleine Staaten dem Kapital Standards aufzwingen statt umgekehrt. Diese Souveränität wollen sie nicht verlieren.

Konsenszwang fördert den Zusammenhalt

Die langsamen Entscheidungsprozesse der EU sind mühsam. Weil viele Entscheidungen die Zustimmung aller Mitgliedstaaten benötigen, sind Prozesse langsam, Regulierungen kompliziert und Strategien widersprüchlich. Das wird oft als Schwäche der EU ausgelegt, aber es garantiert auch, dass die EU zusammenhält. 

Wenn es hart auf hart kommt, liegt die politische Autorität und das Gewaltmonopol bei den Nationalstaaten. Die EU kann zwar einige wirtschaftliche Druckmittel auffahren, aber sie kann keinen Staat physisch dazu zwingen, sich einer Entscheidung unterzuordnen. Der Zwang zum Konsens verunmöglicht einen Entwicklungssprung, den einzelne Mitgliedstaaten nicht mehr mitmachen wollen, und verhindert so das Auseinanderdriften. 

Krisen stärken die EU

Die EU-Staaten sind im Laufe der Zeit wirtschaftlich eng zusammengerückt, und Teil einer Schicksalsgemeinschaft geworden. Für jeden Staat ist der EU-Binnenmarkt so wichtig, dass ein Scheitern der EU mit sehr hohen Kosten und Risiken verbunden wäre, die niemand tragen will. Jedes Mal, wenn die EU in ihrer Existenz bedroht ist, finden die EU-Staaten deshalb eine Lösung, um gemeinsam weiterzumachen, notfalls in nächtelangen Sitzungen voller Drama und Drohungen. 

Nach der Euro-Krise einigte man sich auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und trieb die Bankenunion voran, nach der Brexit-Abstimmung schlossen sich die Reihen hinter einer gemeinsamen Verhandlungsposition gegenüber Drittstaaten und als Reaktion auf die Pandemie nehmen die EU-Staaten erstmals gemeinsam Schulden auf. Viele dieser Lösungen sind keine strukturellen Reparaturen. Sie gleichen einem durch Klebeband zusammengehaltenen Flickwerk. Aber Klebeband funktioniert. 

Die volatile Entwicklung der Welt hält noch einige Krisen für die EU bereit, für die sie nicht gewappnet ist. Die gute Nachricht ist, dass die EU sich im Ernstfall schnell eine Wappnung basteln kann.

Die Vorteile der Neutralität

Die EU hat keine wirksame Aussenpolitik. Die Regierungen der Mitgliedstaaten haben verschiedene Werte, Abhängigkeiten, Bedrohungsszenarien und Interessen. Der Hohe Vertreter für Aussenpolitik der EU (eine Art EU-Aussenminister) kann nur mit dem Einverständnis der Mitgliedstaaten handeln. Das heisst, dass die EU sich nicht auf ambitionierte geopolitische Allianzen oder gar Abenteuer einlassen wird. 

Einzelne Mitgliedstaaten werden sich zwar weiterhin geopolitisch engagieren, aber die EU als Ganzes bleibt unfreiwillig neutral. Die schweizerische Erfahrung zeigt, dass Neutralität profitabel sein kann. Es erlaubt der EU, mit beiden Seiten zu geschäften. Im Idealfall kann die neutrale EU als Vermittlerin beruhigend auf die Spannungen zwischen den USA und China einwirken.

Fazit

Was jetzt? Im letzten Beitrag habe ich geschrieben, weshalb die EU scheitern wird. In diesem Beitrag habe ich argumentiert, weshalb die EU überleben und an Bedeutung gewinnen wird. 

Persönlich vermute ich, dass die Treiber für eine Stärkung der EU stärker sind als jene, die ein Scheitern herbeiführen könnten. Die EU wird stärker, aber der Prozess dazu wird sich anfühlen wie wiederholtes Scheitern. Also etwa so, wie die letzten zehn Jahre.