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EU verstehen

State of the Ohnmacht

Während der State of the Union Ansprache inszeniert sich die EU-Kommissionspräsidentin wie eine US-Präsidentin. Die Realität hinkt dem Anspruch hinterher.

SOTEU - State of the European Union - State of the Ohnmacht

Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen hielt am Mittwoch ihre erste Rede zur Lage der Union, die sogenannte “State of the European Union” (SOTEU) Ansprache. Seit 2010 spricht die Kommissionspräsidentin einmal jährlich über den Fokus der Kommissionsarbeit und wohin sich die EU entwickeln soll. 

Vorbild USA

Die Idee für diese Rede hat die EU sich von den USA abgeschaut. Die jährliche “State of the Union Address” des US-Präsidenten vor dem Kongress ist eine Tradition, die George Washington im Jahr 1790 begonnen hatte. Befürworterinnen einer stärkeren europäischen Integration wollen der EU durch die Übernahme dieser Tradition aus den USA ein föderalistisches Element hinzufügen. Die europäische Regierung soll ihren Plan vor den europäischen Volksvertreterinnen präsentieren und verantworten.

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen der Rede des US-Präsidenten und der Rede der EU-Kommissionspräsidentin.

Wenn der US-Präsident zum Kongress spricht, dann spricht der Chef-Kommandandt der mächtigsten Armee der Welt, ein Mann mit weitreichenden exekutiven Befugnissen und einem Mandat von mehr als 60 Millionen direkten Wählerinnen-Stimmen, der Anführer einer grossen US-Partei, die oft auch in den Parlamentskammern eine Mehrheit hält. Kurz: Es spricht politische Autorität. Dem US-Präsidenten stehen Machthebel zur Verfügung, mit denen er seine politische Vision zumindest teilweise in die Tat umsetzen kann.

Europäische Realität

Anders sieht es auf dieser Seite des Atlantiks aus. Die EU-Kommissionspräsidentin hat keine vergleichbaren Machthebel. Zwar hat die EU-Kommission das alleinige Initiativrecht, um Regelungen auf der EU-Ebene anzustossen, aber ohne die nationalen Regierungen passiert gar nichts. Denn sie sitzen im europäischen Rat und im EU-Rat. Und alle wesentlichen, neuen Regulierungen müssen vom EU-Rat mit qualifizierter Mehrheit oder sogar einstimmig beschlossen werden. Das gibt den nationalen Regierungen Macht über den Regulierungsprozess. Sie können ihn jederzeit anhalten. 

Mehr zum Verhältnis zwischen dem europäischen Rat und der EU-Kommission findest du in diesem Beitrag.

Auch im Parlament hat die Kommissionspräsidentin keine Machtbasis hinter sich. Ursula von der Leyen ist Mitglied der CDU, die gemeinsam mit der Schwesterpartei CSU 29 Abgeordnete im 705-köpfigen europäischen Parlament stellt. Zählt man grosszügigerweise die gesamte EVP-Fraktion, dann sind es 187 Abgeordnete, die zur europäischen Parteienfamilie von der Leyens gehören. Aber selbst über dieses gute Viertel des Parlaments hat sie keinen direkten Hebel.

Die relative Schwäche der Kommission bedeutet, dass die Rede vorsichtig beurteilt werden muss. Je eher es in der Rede um konkrete Regulierungen geht, die im bisherigen Kompetenzbereich der Kommission liegen, desto eher kann man die entsprechenden Aussagen für bare Münze nehmen. Je eher es in der Rede um visionäre Ambitionen und grundlegende Veränderungen geht, desto vorsichtiger sind sie zu bewerten. 

Kompromisse statt Visionen

Trotzdem: An einer Rede zur Lage der Union werden Führung und Vision erwartet – ganz nach US-amerikanischem Vorbild. Von der Leyen bediente dieses Bedürfnis mit Floskeln und einer grossen Portion Pathos. Eine konkrete, kohärente Vision lieferte sie aber nicht. Der Rechtsprofessor und EU-Aktivist Alberto Alemanno zeigte sich nach der Rede enttäuscht, dass keine konkrete Vision für die Zukunft Europas aufgezeigt wurde. 

Gewiss, es wäre schön zu wissen, was die konkrete Vision von Ursula von der Leyen für die Zukunft der EU ist. Leider ist es nicht sehr relevant. Denn die Kommissionspräsidentin hat im aktuellen institutionellen Umfeld der EU kaum Mittel ihre Vision in die Tat umzusetzen.

Stattdessen hat Ursula von der Leyen der Öffentlichkeit einen Massnahmenkatalog unterbreitet. Die wichtigste Eigenschaft des Massnahmenkatalogs ist nicht dessen Kohärenz oder Zukunftstauglichkeit. Seine wichtigste Eigenschaft ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Massnahmen von Parlament und Rat angenommen werden. Es ist also zwingend ein Katalog voller Kompromisse und kein kühner Bauplan für das Europa der Zukunft. 

Die “gutschweizerische” EU

Als Schweizer lässt sich das gut nachvollziehen. Unsere Regierung mit sieben Bundesrätinnen aus vier verschiedenen Parteien hat keine konkrete Vision für die Schweiz. Führung ist von aussen auch nicht ersichtlich. Die schweizerischen Institutionen sind nicht dafür gebaut, eine in sich kohärente, politische Zukunftsvision zu verfolgen. Sie sind darauf ausgerichtet, Kompromisse zu finden und Vorlagen durch breite Abstützung Referendums-sicher zu machen.

Die EU und die Schweiz sind vereint in ihrem institutionell bedingten Fokus auf interne Kompromissfindung. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrem Umgang damit. Die schweizerische Politik blickt nach innen, genügt sich mit diesem Stand der Dinge und zelebriert den “gutschweizerischen Kompromiss” an 1. August-Reden. Die meisten Politikerinnen auf EU-Ebene sehen den Zwang zur Kompromissfindung als Bürde. Im Gegensatz zur Mehrheit der schweizerischen Politikerinnen geben sie sich nicht zufrieden mit den Institutionen, in denen sie sich bewegen. Sie suchen Wege, wie sie einfacher, effizienter und schlagkräftiger funktionieren können. Sie schauen voraus in eine erwünschte Zukunft und halten Reden, als wäre die EU schon die Weltmacht, die sie werden wollen.