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Schweiz

Neutralität. Ein Sommermärchen.

Eine Kurzgeschichte mit Kampfjets, Bundesrätinnen und heiligen Kühen.

Neutralität. Ein Sommermärchen.

Verdammt, da fährt mein Bus ab. Ohne mich. Es ist Sonntagmorgen früh. Der nächste Bus fährt erst in 15 Minuten. Dann fährt auch mein Zug, mit dem ich in die Schweiz wollte. 

Hastiges Tippen auf dem Smartphone offenbart: Bis zum Bahnhof benötige ich 22 Minuten zu Fuss. Shit, okay, ich renne los. 

Die ersten 500 Meter sind schlimm. Jedes meiner müden Körperteile nimmt sich persönlich die Zeit, meine Faulheit zu verfluchen. Diese ist schuld daran, dass ich zu spät bin und dass sie zu dieser Unzeit zur Schwerstarbeit gezwungen werden. Der vollgestopfte, unförmige Rucksack zerrt mit jedem Schritt an meinen Schultern und schlägt mir ins Kreuz. 

Nach 500 Metern stelle ich erfreut fest, dass der Rest des Wegs abfallend sein wird. Und mit Adrenalin scheine ich auch meinen Körper dazu bestochen zu haben, sich der Mission Zugerwischen anzuschliessen. Ich sollte es rechtzeitig an den Bahnhof schaffen. 

In weiten, lauten Schritten klatschen meine Füsse den Asphalt hinunter, dem Bahnhof Central entgegen. Ich renne links am königlichen Palast und dann rechts am Magritte-Museum vorbei. Hoffentlich zerläuft mir die Zeit nicht so wie seinem Surrealisten-Kollegen Dalí, denke ich. Selbstzufrieden über diesen kultivierten Gedanken jogge ich weiter. Ich beschliesse, später im Zug-Bistro einen Schwarztee zu trinken und mit hochgezogenen Augenbrauen und abgespreiztem kleinem Finger den Gedanken in angemessenerem Format nochmal zu denken.

Nach einem Schlussspurt durch den Bahnhof erreiche ich meinen Zug rechtzeitig und lasse mich in den Sitz fallen.

Wenige Momente später fährt der Zug los. Erleichtert und im Adrenalin-Hoch kommt mir in den Sinn, dass ich ohne meine Faulheit weder Morgensport gemacht noch das aktuelle Hochgefühl gefühlt hätte. “Halt die Klappe”, sagen meine Knie, die in der letzten Viertelstunde ein Vierteljahrzehnt gealtert sind. Mir kommt eine Studie in den Sinn, die kürzlich in meinem Lieblingspodcast besprochen wurde. Sie fand heraus, dass Leute, die unter Stress Entscheidungen treffen müssen, oft die langfristigen Folgen und Kosten ihrer Entscheidungen nicht berücksichtigen können. Ein Hindernis für sozialen Aufstieg, da Menschen in Armut mehr Stress verspüren. Ich merke, wie das Adrenalin sich abbaut und der Erschöpfung Platz macht. Mein Atem verlangsamt sich, der Zug nimmt Fahrt auf.  

Im Kopf gehe ich durch, was ich in der Schweiz erledigen muss. Abstimmen darf ich nicht vergessen. Das ist Bürgerpflicht. Uhh, das klingt gut. So könnte ich die Reise dann im Hauptstadt-Bericht beschreiben. Eine Reise ins Mutterland im Namen der Bürgerpflicht macht sich gut als Aufhänger in einem politischen Blog. “Coming home for Vote-Mess” schreibe ich als Erinnerung in meinen Notizblock.

Bei der Kündigungsinitiative der SVP weiss ich, wie ich abstimmen werde. Bei den Kampfjets bin ich mir noch nicht sicher. Grundsätzlich bin ich pro-militärisch eingestellt. Solange autoritäre und totalitäre Regimes Waffen haben, brauchen auch liberale Demokratien welche. Und zwar mehr und bessere. Die Nazis wurden nicht mit Worten besiegt, sondern in Grund und Boden geschossen. Im etwas aktuelleren Kontext: Ich bin froh, dass NATO-Soldatinnen im Baltikum die jungen Demokratien vor Putin schützen und dass US-amerikanische Flugzeugträger Xi Jinping (noch) davon abhalten, die Taiwaner zu unterjochen.

Nur: Wir sprechen nicht über diese Art von Armee. Wir sprechen über das schweizerische Militär. Seit meiner RS in Thun sehe ich sie eher als teure Pfadi, die mit Waffen spielen darf. Tief eingebettet im europäischen und transatlantischen Sicherheitskokon lässt es sich munter “Chriegerlis” spielen. Und am Wochenende geht es nach Hause. Mama kocht leckere Pasta und Papa wäscht die dreckigen Kleider. Die einzige Verantwortung, welche die schweizer Armee trägt, ist, dass die Rekruten wieder gesund nach Hause kommen. Dort, wo Demokratie und Freiheit bedroht sind, gehen wir nicht hin. Das überlassen wir anderen.

Der Zug rast mittlerweile über die flache Landschaft. Ich stelle mir vor, wie es wäre, in einem Kampfjet darüber zu fliegen. Das muss mächtig sein. Ich lehne mich zurück, schaue in die Wolken. Das Rauschen des Zugs beruhigt. Es fühlt sich wie Fliegen an. Meine Augenlider werden schwer.

Vorne im Waggon balanciert eine Frau in meine Richtung. Ihre Hände gleiten über jede zweite Kopfstütze und stabilisieren sie so im leicht schwankenden Schnellzug. Als sie schon fast auf meiner Höhe ist, sagt sie “Grüezi Herr Ammann” und setzt sich schräg gegenüber von mir hin.

“Hm?” verdutzt schaue ich sie an. “Oh, äh, grüezi, Frau Amherd!” Schnell schiebe ich nach: “Frau Bundesrätin Amherd!”

Sie interpretiert meinen fragenden Blick richtig und sagt: “In Bern liest man den Hauptstadt-Bericht, man kennt Sie!” Das ist speziell, denk ich und notiere mir mental, zuhause dringend meine Website-Statistiken zu studieren. Aber woher sollte sie sonst meinen Namen kennen? Ich entscheide, dass mir diese Erklärung gefällt. “Das freut mich”, sage ich und freue mich darüber, wie souverän ich klinge.

Wir tauschen einige nette Worte aus. Was sie in Brüssel genau machte, will sie mir nicht sagen. “Ein paar wichtige Termine” habe sie gehabt. Das ist alles, was ich aus ihr rauskriege. Ich erzähle ihr, weshalb ich in die Schweiz fahre, dass ich abstimmen will. Als sie das hört, treibt ein Funken Interesse die Smalltalk-Mattheit aus ihren Augen. “Und?” fragt sie gespannt, “erhalte ich die Kampfjets?”

“Ich weiss nicht”, antworte ich. Die Bundesrätin sitzt etwas aufrechter hin. Ihr politischer Instinkt wittert eine potenzielle Wechselstimme.

Ich erzähle ihr, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen, bevor sie sich zu mir ins Abteil gesetzt hatte. Beim Pfadi-Vergleich protestiert sie, aber ihr anschliessendes Schmunzeln und ihr abschweifender Blick lassen mich rätseln, an welchen ihrer Chef-Offiziere sie spontan denken musste.

Sie stimmt mir zu, dass die Schweiz in einem europäischen Sicherheitskokon lebt, sagt aber: “Dieser Kokon ist keine Gewissheit. Wir müssen bereit sein für den Fall, dass er in sich zusammenfällt. Auch wenn wir das nicht hoffen.” Das leuchtet ein. “Aber”, erwidere ich, “macht es dann nicht Sinn, den europäischen Sicherheitskokon zu verstärken, damit der gar nicht erst zusammenfällt?”

“Das geht nicht, wir sind neutral”, kontert die Bundesrätin meinen Denkfehler mit einem leicht triumphierenden Unterton.

“Vielleicht ist das der Fehler”, wende ich ein, “unsere Neutralität.”

Die Bundesrätin hebt ihre Augenbrauen. “Achso, da weht der Wind her”, verrät ihr Gesichtsausdruck. Sie fasst sich schnell und sagt: “Als Nächstes sagen Sie mir wohl, dass die Neutralität uns ursprünglich von den Mächten um uns herum aufgezwungen wurde. Wir hätten die Neutralität gar nicht selbst gewählt. Na und? Mittlerweile haben wir realisiert, dass sie eine gute Errungenschaft ist und sie freiwillig behalten.”

Mist. Dieses Argument wollte ich tatsächlich bringen und sie hat es gerade gegen mich verwendet. Sie ist gut.

Ich ordne noch meine Gedanken, da haut sie mir die nächsten Argumente um die Ohren.

“Sagen Sie mir, Herr Ammann, was aus der Schweiz geworden wäre in den beiden Weltkriegen ohne Neutralität? Zerrissen hätte es uns im ersten Weltkrieg, weil die Romands Frankreich unterstützten und die Deutschschweizer Deutschland. Und im zweiten Weltkrieg hätte es die Heldenhaftigkeit vielleicht geboten, sich gegen die Nazis zu stellen. Aber wir waren umringt von Faschisten. Sie hätten uns im Handumdrehen platt gemacht, wenn wir ihnen Anlass dazu gegeben hätten, Réduit hin oder her. Die Neutralität war die Retterin der schweizerischen Demokratie!”

“Das mag alles stimmen”, erwidere ich, “aber heute sind wir nicht mehr umgeben von Mächten, die sich gegenseitig bekriegen. Der schweizerische Bundesstaat würde auch ohne Neutralität problemlos überleben. Es gab eine Zeit für die Neutralität, aber Zeiten ändern sich…”

Wumms!

Ich zucke zusammen. Aus dem Nichts hat die Bundesrätin einen etwa vierhundert-seitigen Stapel Papier auf das klapprige Zug-Tischchen geknallt. Keine Ahnung, woher sie ihn genommen hat. Er war mir vorher nicht aufgefallen. “Sicherheit 2020” steht fett obendrauf, und etwas kleiner im Untertitel: “Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend”. Der Stapel ist zerfleddert und zerlesen. Am Rand ragen bunte Lesezeichen heraus wie aus den Gesetzesbüchern von ambitionierten Jus-Studentinnen. Die Bundesrätin packt ein grünes Lesezeichen in der Mitte des Stapels und schlägt die entsprechende Seite auf.

“Schauen Sie”, sagt sie, “das ist die aktuellste Umfrage zum Thema. 96% der Schweizerinnen und Schweizer unterstützen die Neutralität.”

Ich ziehe den Stapel an mich heran und beginne zu lesen. Tatsächlich. 96% sind eine ganze Menge. Glücklicherweise bin ich genügend arrogant, dass ich mir durchaus vorstellen kann, Recht zu haben, während 96% der Bevölkerung falsch liegen. Ich blättere noch etwas weiter.

17% der Schweizerinnen würden die Neutralität aufgeben, wenn sie keine Vorteile mehr bringt für die Schweiz, lese ich da. Das heisst im Umkehrschluss: 83% der Schweizerinnen wollen die Neutralität, auch wenn sie keine Vorteile bringt. Sie erachten die Neutralität als etwas an sich Gutes.

“Frau Bundesrätin”, frage ich, “was ist denn intrinsisch gut an der Neutralität? Wieso ist es besser, neutral zu sein als für die Guten? Oder weniger überspitzt formuliert: Wieso ist es besser, neutral zu sein als für die liberalen Demokratien und gegen die Autokraten und Totalitären?”

Die Bundesrätin antwortet nicht, überlegt kurz und schaut mir in die Augen. Sie hat sich vorgenommen, mich zu überzeugen. Und sie wird nicht lockerlassen, bis sie das geschafft hat. “Kommen Sie mit, ich zeige ihnen etwas,” sagt sie. Ich frage mich, wohin ich mitgehen soll. Schliesslich sitzen wir in einem Zug. Da schaue ich raus und merke, dass wir schon in Zürich einfahren. Die Fahrt ist wie im Flug vergangen.

Bevor ich mich weiter über die Kurzweiligkeit der Zugfahrt wundern kann, eile ich der Bundesrätin hinterher, durch die Europaallee, in Richtung Langstrasse. Das ist nicht die Richtung, die ich erwartet hätte. Ich mache mir eine mentale Notiz, meine Stereotype über Magistratinnen aus der Walliser CVP zu überden… Ohhh, Walliser CVP… Ich streiche meine mentale Notiz durch. Plötzlich ist mir mulmig zumute.

Die Bundesrätin peilt ein Restaurant an, einen Burger-Laden. Fast etwas gezwungen volksnah, finde ich. Aber was will sie mir dort zeigen? Hat sie Hunger? Ich lese die Überschrift am Eingang. “Holy Cow” heisst das Lokal.

Etwas verwirrt trete ich ein. Meine Augen suchen automatisch nach einem freien Tisch. Aber die Bundesrätin ist schon in Richtung Küche unterwegs und winkt mich heran. Ein Schild neben ihr warnt “Zutritt nur für Personal”. Ich zögere, aber sie drängt: “Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Herr Ammann.” Also folge ich. Schliesslich ist sie Bundesrätin, jederfrau Personal.

Es riecht nach Bratfett und karamellisierten Zwiebeln. Das Küchenteam ignoriert uns, als wäre es den Besuch gewöhnt. Am Ende der Küche kommen wir in einen Gang. An dessen Ende an einen Lift. Davor stehen zwei WK-Soldaten Wache. Das heisst, sie sitzen und jassen.

Die Bundesrätin will den Lift per Knopfdruck anfordern, doch im selben Moment öffnen sich die Lift-Türen und Bundesrat Parmelin tritt heraus. Bundesrätin Amherd nutzt die Gelegenheit, mir den Wirtschaftsminister kurz vorzustellen. Was für ein Tag! Der Bundesrat streckt mir seine Hand entgegen und ich packe zu. Im selben Moment schrecke ich leicht zurück. Die Hand des Bundesrats ist glitschig. Ich versuche, unauffällig auf meine Hand zu schauen. Sie ist schwarz verschmiert, stelle ich leicht angeekelt fest. In der linken Hand des Bundesrats fällt mir jetzt ein verschmierter Lappen auf.

Was ist hier los, frage ich mich, nachdem ich der Bundesrätin in den Lift gefolgt bin. Wir fahren abwärts. Repariert Herr Parmelin ab und zu Bundesrat Maurers Militärvelo? Ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus.

Im Lift sehe ich keine Etagen-Bezeichnungen. Er scheint bloss das Erdgeschoss mit einem Geschoss weiter unten zu verbinden. Viel weiter unten. Wir sind nun schon eine Weile im Lift und er fühlt sich nicht langsam an. Ich muss leer schlucken für den Druckausgleich.

Endlich hält der Lift an. Die Türen öffnen sich und vor uns erstreckt sich ein langer, weiss beleuchteter Gang. Die Bundesrätin eilt los, ich hinterher. “Wo sind wir?”, frage ich und versuche meine Beunruhigung nicht zu zeigen.

“Tief im schweizerischen Unterbewussts- ähh… Untergrund. Tief im schweizerischen Untergrund, natürlich. Wo sonst?” Ihre Schritte beschleunigen sich.

Wir laufen an einer pompösen goldigen Tür vorbei. Sie passt nicht hierher. Sie sieht aus, als wäre sie aus dem Königspalast in Versailles hierher transportiert worden. Mit diamantbesetzten Lettern steht “Direkte Demokratie”. Gerne würde ich hineinschauen. Das unbeirrte Weitermarschieren der Bundesrätin signalisiert mir, dass wir keine Zeit haben.

Als nächstes kommen wir an einer kaputten Tür vorbei. Ein Absperrband und ein daran hängendes A4-Blatt verkünden, dass der Raum gesperrt ist. “Bankgeheimnis” steht in vergilbter Farbe auf der Tür.

Zwanzig Meter weiter hinten sehe ich durch eine gläserne Tür und die anschliessende Fensterfront erstmals in einen Raum hinein. Drinnen sitzt eine schöne junge Frau in einer Robe vor einer Staffelei. Links von ihr liegen ein Speer und ein Schild. Beeindruckender sind aber die Hunderten von Zeichnungen, die im ganzen Raum rumliegen. Und alle sehen ähnlich aus. Es sind ausnahmslos Porträts der jungen Frau, nur der Hintergrund ändert sich. Mal sind es Berggipfel, mal Kühe, mal eine blumige Alpweide. “Hier arbeitet Helvetia an ihrem ländlichen Selbstbild”, kommentiert die Bundesrätin mein ungläubiges Starren. Sie klingt leicht resigniert.

Erst jetzt bemerke ich den Mann, der mit dem Rücken zu uns verträumt durch das Fenster schmachtet. “Ueli!”, fährt die Bundesrätin ihn an, “Solltest du nicht arbeiten?”

“Wozu denn?” antwortet der Finanzminister unbeeindruckt, “Ich habe doch eine Schuldenbremse.” Sein verschmitztes Lächeln trifft ins Leere, die Bundesrätin ist schon wieder losgegangen.

Wir kommen an eine weitere Türe. Davor sitzen wieder zwei jassende WK-Soldaten. Etwas zu spät verstecken sie das Dosenbier unter ihrem Plastikstuhl. An der schlichten, weissen Tür steht “Neutralität”.

“Voilà, Herr Ammann, hier sind wir”, sagt die Bundesrätin. Mit den Worten “Ohne die schweizerische Neutralität wäre die UNO nicht in Genf” schwingt sie die Türe auf. Ich trete ein und im ersten Moment meine ich, tatsächlich in Genf vor der UNO zu stehen. Dann merke ich, dass ich auf ein hyperrealistisches Bild der UNO schaue.

“Die UNO hat auch einen Hauptsitz in New York”, erwidere ich, “und die USA sind nun wirklich nicht neutral”.

Die Bundesrätin antwortet nicht, sondern schnippt mit den Fingern. Zack! Das Bild hat gewechselt. Jetzt stehen wir in einer Gefängniszelle zusammen mit einem Delegierten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK). “Ohne Neutralität könnte das IKRK seine Arbeit nicht mehr machen”, sagt die Bundesrätin.

Ich bin nicht ganz sicher, ob das stimmt. Das Argument gefällt mir aber wesentlich besser. Etwas anderes stört mich: Kann man da einfach raufprojizieren, was man will?

In der Mitte des Bildes meine ich einen kleinen Spalt zu erkennen. Ist das gar keine Wand? Langsam gehe ich darauf zu. Ich merke, wie die Bundesrätin unruhig wird. Ich tue so, als wollte ich das Bild genauer anschauen – es auf mich wirken lassen.

Ich bin etwa in der Hälfte des ca. 20 Meter tiefen Raums angelangt. Tatsächlich. Das ist ein Spalt. Von Näherem betrachtet sieht die Neutralität wie ein Vorhang aus. Doch was steckt dahinter?

“Herr Ammann, von hier hinten sieht man es viel besser”, ruft die Bundesrätin durch den Raum. Die Unruhe in ihrer Stimme ist unüberhörbar. Vielleicht hätte sie mich nicht mitnehmen sollen. Das macht mich umso neugieriger. Ich muss sehen, was sich hinter diesem Vorhang versteckt.

“Was soll das?!”, ruft Bundesrat Maurer. Er ist soeben mit den beiden leicht beduselten WK-Männern in den Raum getreten. “Kommen Sie sofort zurück!”

Jetzt oder nie. Ich sprinte los.

Nach wenigen Schritten erreiche ich den Spalt. Ich packe den Rand des filzigen, schweren Vorhangs und ziehe ihn weit genug auf, um durchhuschen zu können. Auf der anderen Seite renne ich weiter. Doch schon beim dritten Schritt schlagen meine Zehen an einen schweren Widerstand und ich falle bäuchlings hin. Vor Schmerz glaube ich, Sterne zu sehen.

Etwas gedämpft höre ich den hysterischen Bundesrat Maurer hinter dem Vorhang rufen: “Tut doch was! Schiesst! Es geht um die nationale Sicherheit!”

“Chabis”, höre ich die Bundesrätin einwenden. “Das besteht aus 96-prozentigem Konsens. Kein Material ist kugelsicherer.”

Erleichtert rapple ich mich auf und sehe, worüber ich gestolpert bin. Es ist ein Goldbarren. Und ich kann mich glücklich schätzen, dass ich nicht einen Meter weiter rechts gerannt war. Dort türmen sich die Goldbarren mehrere Meter hoch.

Ich laufe weiter in den Raum hinein. Ich nehme an, dass die Bundesrätinnen und ihre beiden bewaffneten Elite-Jasser mich verfolgen. Die Füsse schmerzen, ich sehe immer noch Sterne. Nein, das sind keine Sterne. Es sind Kronleuchter. Viele Kronleuchter. Sie hängen weit oben im Raum. Aber wo ist die Decke, an der sie befestigt sind? Ich sehe sie nicht, zu hoch ist der Raum. Auch rechts, links und gegen vorne sehe ich keine Wände. Nur hinter mir ist der Raum begrenzt, durch den bescheidenen Vorhang, den ich schnellen Schrittes hinter mir lasse.

Vor mir präsentiert sich ein reges Treiben. Es kommt mir vor, wie wenn die Lobby-Bereiche aller schweizerischen Luxushotels zu einem riesigen, poshen Marktplatz aneinandergefügt worden wären. Edle Anzüge sitzen in dicken Sesseln, ins Gespräch vertieft. Andere spazieren lachend und sich jovial auf die Schultern klopfend durch die scheinbar ewige Lobby.

Hier sollte ich mich eine Weile verstecken können. Nur bin ich in meinen Jeans und T-Shirt definitiv underdressed. Falls mich jemand anspricht: Ich bin ein junger Tech-Millionär, der einen zukunftsweisenden Überwachungsalgorithmus verkauft und der Menschheit endlich die Möglichkeit schenkt, mit relevanteren Werbe-Anzeigen bespielt zu werden. Die Leute hier machen den Eindruck, als würden sie auf so etwas abfahren.

Ich setze mich in einen Sessel, dessen hohe Rückenlehne mich vor Blicken aus der Richtung des Vorhangs schützt. Hier fühle ich mich vorerst sicher vor den Bundesrätinnen und den beiden Soldaten des zweiten Feldschlösschen-Battaillons.

Ich schaue nach vorne und stelle mit Schrecken fest, dass ich mich an den Rand einer Gesprächsrunde gesetzt habe. Glücklicherweise scheinen sie mich nicht zu bemerken. Einen der Gesprächsteilnehmer kenne ich aus den Medien. Es ist Iwan Glasenberg, der Glencore-Chef. Er hat soeben mit russischen Geschäftspartnerinnen einen grossen Rohstoff-Deal abgeschlossen. Mit Verweis auf die Neutralität hat sich die Schweiz nicht an den europäischen Sanktionen gegen Russland beteiligt, nachdem Putin in die Ukraine einmarschiert war. Schweizerinnen dürfen sich also nach wie vor an Putin-stärkenden Deals bereichern. Zum Abschluss des Vertrags trinken die Vertragspartnerinnen  einen Vodka und spucken auf einen ukrainischen Kriegsgefangenen, den die russische Vertreterin zu diesem Zweck mitgebracht hatte.

Angewidert stehe ich auf und gehe weiter.

In der benachbarten Sesselgruppe erkenne ich Bundesrat Ignazio Cassis. Ihm gegenüber sitzt Mohammed bin Salman, der saudische Kronprinz und de facto Diktator. Zwischen ihnen auf dem Couchtisch liegt… ist… ist das… ja… ja, das ist sie… auf dem Couchtisch liegt die zerstückelte Leiche des saudischen Oppositionsbloggers Jamal Khashoggi, dessen Ermordung der Kronprinz angeordnet hatte. Aussenminister Cassis scheint die Leiche zu ignorieren. Er schaut über sie hinweg und spricht ausgesprochen höflich mit dem Kronprinzen über die gemeinsamen Interessen und die vielversprechende Zusammenarbeit unserer beiden Länder.

Mir wird übel. Ich gehe zehn Schritte weiter, ducke mich hinter einen Marmor-Brunnen und übergebe mich.

Dann taumle ich weiter. Ich komme an einem Huawei-Promotionsstand vorbei. Davor stehen einige Schweizer Parlamentarierinnen und schwärmen über die tiefen Preise. Sie scheinen alle das Sternchen nicht zu sehen, das oben rechts neben der Preisangabe auf eine Zusatzinformation hinweist. Diese ist unten am Schild in Kleinschrift ausformuliert. “inkl. Zugriff auf die strategische Infrastruktur der Schweiz”, steht dort.

Die Promotionsstände der europäischen Anbieterinnen locken weniger Interessentinnen an. Sie können nicht mit den Preisen des chinesischen Staatskapitalismus mithalten. Und auf dem neutralen Marktplatz zählt nur der Preis.

Ich gehe weiter bis zu einem Platz, um den sich viele Menschen versammelt haben. In der Mitte des Platzes steht eine enorme goldene Waage. Ein Moderator erklärt: “In die rechte Waagschale legen wir das moralische Gewicht der Verfolgung, Unterdrückung und Dezimierung der Uiguren in China. In die linke Waagschale legen wir die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz in China. Möge die weise Waage der Neutralität bestimmen, was überwiegt!” Die linke Waagschale sackt nach unten, die rechte baumelt hilflos in der Höhe. “Die Wirtschaftsinteressen überwiegen!”, verkündet der Moderator. Die Anzüge jubeln. Ich möchte weinen. “Wir bedanken uns bei unserer Sponsorin Economiesuisse, die den Anlass überhaupt erst möglich gemacht hat”, ruft der Moderator hinter seinem aufgesetzten Lächeln in die Runde.

Ein bleichgesichtiger Anzug neben mir ist zufrieden mit dem Resultat. “Das ist gut so, wir müssen weltoffen bleiben”, sagt er. Ich packe ihn an der Kravatte und drücke sie in die Hand von Xi Jinping, der praktischerweise gerade neben mir steht. Er solle das Bleichgesicht doch bitte nach China schleifen und ihm zeigen, wie es dort so läuft. “Keine Sorge, er ist weltoffen”, versichere ich dem chinesischen Souverän, der sich etwas besorgt zeigt, dass dem Demokratie-verwöhnten Anzug das totalitäre Klima in China unangenehm sein könnte.

Erst jetzt fällt mir der Hund an Xi Jinpings Seite auf. Ein schöner, starker Hund, der auch ohne Leine brav an Xi Jinpings Seite bleibt. “Ich habe ihn mit Marktzugangsleckerli konditioniert, jetzt folgt er mir aufs Wort”, sagt Xi Jinping stolz. Dem orangen Schriftzug auf dem weissen Halsband nach zu urteilen heisst der Hund Economiesuisse.

Ich beobachte, wie Economiesuisse an Xi Jinpings Beinen schnuppert. Mein Blick fällt auf die Schuhe. Sie sind frisch geputzt, aber nicht perfekt. Der Schuhputzer hat etwas zu viel Schuhcrème verwendet. Schuhcrème… Ich schaue auf meine nach wie vor schwarz verschmierte rechte Hand, erinnere mich an den glitschigen Händedruck des Wirtschaftsministers und spüre, wie der Zorn in mir aufwallt.

Noch bevor ich meine Wut und Enttäuschung eindämmen kann, sehe ich, wie meine Hand die Schuhcrème in Xi Jinpings Gesicht verteilt und ich höre meine aufgelöste Stimme rufen: “Wir Schweizer lassen uns nicht alles bieten!”

Ich stolpere zurück, starre auf meine Hand und wundere mich, was ich gerade angestellt habe. Economiesuisse leckt Xi Jinping die Schmiere aus dem Gesicht.

Xi Jinping hebt unbeeindruckt die linke Augenbraue und sagt: “Ach ja?”

Er schnippt mit den Fingern, worauf Economiesuisse bellt und unverzüglich zum Sprung ansetzt. Ich habe keine Zeit, um auszuweichen, geschweige denn wegzurennen. Es gelingt mir gerade noch, mich leicht abzudrehen. Ich sehe die offene Schnauze des Hundes auf meinen Oberarm zufliegen. Ich schliesse die Augen und warte, bis sich die spitzen Zähne in meinen Arm bohren.

Ein leichtes Knuffen spüre ich am Oberarm. Das sind keine Hundezähne. Blinzelnd öffne ich die Augen und schaue ins Gesicht des belgischen Zugbegleiters.

“Monsieur, votre billet, s’il vous plaît.”

Entgeistert starre ich ihn an. Ich krame nach meinem Billet und zeige es ihm. 

Vorsichtig betaste ich meinen Oberarm. Alles scheint in Ordnung. “Nichts ist in Ordnung”, flüstert es aus der rechten goldenen Waagschale in meinem Hinterkopf. Mein Körper verkrampft sich. Ich will nicht zurück. “Denk an etwas anderes, Janos!”, rede ich mir ein. 

Ich ziehe einen schweren mentalen Vorhang vor die Waagschale und den vorwurfsvoll klappernden Unterkiefer Khashoggis. Trotz schmerzender Knie stehe ich auf und torkle in Richtung Zugbistro. Dort bestelle ich einen Schwarztee.

Erleichtert denke ich an Magritte und Dalí, hebe meine Augenbrauen und spreize meinen kleinen Finger ab. Komisch, der kleine Finger lässt sich nicht abspreizen. Verdutzt schaue ich auf meine Hand. Doch da ist keine Hand. Da ist eine Hundepfote.