Ich bin der EU gegenüber grundsätzlich wohlwollend eingestellt. Es kann deshalb vorkommen, dass ich manchmal zu unkritisch über sie berichte. Viele meiner Berichte gehen implizit davon aus, dass die EU hier ist, um zu bleiben, und dass ihre Bedeutung tendenziell noch zunimmt. Diese Annahme ist zentral für die Einstellung, die man zur schweizerischen Europapolitik hat. Wer denkt, dass die EU stärker wird, sieht viel schneller einen Grund, ein näheres Verhältnis mit der EU zu suchen als umgekehrt.
Es ist aber keineswegs gesichert, dass die EU ein Modell für die Zukunft ist. Als Gegengift für meine latente EU-Freundlichkeit lege ich im Folgenden vier Gründe dar, weshalb die EU zum Scheitern verurteilt ist.
Die EU kann sich nicht entscheiden.
Die Entscheidungswege der EU sind langsam. Für die wichtigsten Entscheidungen braucht es sogar die Zustimmung der Regierung jedes einzelnen Mitgliedstaats. Eine Regierung kann die ganze EU blockieren. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn einige Regierungen sich zu Autokratien entwickeln. Ihre einzige Motivation, die EU nicht total zu blockieren, ist die Möglichkeit, sich an EU-Geldern zu bereichern.
Die EU ist weltpolitikunfähig
Die Weltpolitik ist zurück. Ein globales Kräftemessen zwischen den USA und China bahnt sich an. Wer in dieser Welt bestehen will, muss mit Weltpolitik umgehen können. Die aktuelle EU-Kommission nannte sich “die geopolitische Kommission”, um ihrem Anspruch Ausdruck zu verleihen, dass die EU auch in geopolitischen Angelegenheiten mitreden will. Doch nichts liegt der Realität ferner.
Die EU lässt sich auf peinlichste Art und Weise vom russischen Regime vorführen. Auch gegenüber China hat es die EU nicht geschafft, sich auf eine kohärente Position zu einigen. Sie beklagt sich ein bisschen über die Behandlung der Demonstrantinnen in Hongkong, protestiert halblaut gegen die Zwangsinternierung und Massensterilisierungen der Uiguren in Xinjiang und unterzeichnet dann ein Investitionsabkommen mit China. Wichtig ist für die EU in erster Linie der gleichberechtigte Marktzugang für europäische Investorinnen.
Wer die Beziehung zum chinesischen Regime vor allem unter dem Gesichtspunkt des Marktzugangs betrachtet, ist wie ein Badetourist, der sich darüber freut, den Strand für sich alleine zu haben, und dabei den anrollenden Tsunami übersieht.
Einer der Gründe für die Weltpolitik-Unfähigkeit ist wieder das Unvermögen der Regierungen, sich im Namen der EU auf eine Position zu einigen. Das erlaubt anderen Mächten, die EU-Staaten gegeneinander auszuspielen. Ein anderer Grund ist die deutsche Regierung, die Weltpolitik scheut wie der Teufel das Weihwasser. Die EU kann nicht weltpolitikfähig werden, solange die Regierung des grössten Mitgliedstaats weltpolitikunfähig ist.
Die EU kann ihre Versprechen nicht halten.
“Das ist Europas Moment”, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit viel Pathos in der Stimme, als die ersten Covid-Impfungen in der EU zugelassen wurden. Sie kündigte eine wirksame Impfoffensive an, die Europa aus der Pandemie führen würde. Was seither geschah, liess die EU zur Lachnummer der entwickelten Welt verkommen. Die EU impft viel langsamer als die USA oder Grossbritannien.
Für einen Grossteil der Blamage ist nicht die EU-Kommission schuld, sondern die einzelnen Mitgliedstaaten. Es liegt an ihnen, die Impflogistik in ihren Ländern zu managen, denn die Gesundheitssysteme sind national organisiert. Aber weil die EU-Kommission sich vorher mit ihrer Ankündigung gross in Szene gesetzt hatte, bleibt auch die Verantwortung an ihr hängen.
Die EU-Kommission sieht sich selbst gerne als europäische Regierung. Aber ihr fehlen die Kompetenzen, das durchzuführen, wofür sie die Verantwortung übernehmen will. Sie kann nur enttäuschen.
Die EU schafft Opposition gegen sich selbst.
Die wichtigsten Regeln der EU sind in ihren Gründungsverträgen niedergeschrieben. Sie sind eine Art Verfassung der EU und sind fast unmöglich zu ändern. Die Verträge zwängen die EU in ein relativ enges Korsett der wirtschaftlichen Organisationsform: Die EU ist eine freie Marktwirtschaft mit ihren vier Grundfreiheiten (freier Kapital-, Dienstleistungs-, Personen- und Warenverkehr) und dem Verbot der staatlichen Beihilfen.
Kritikerinnen dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung können ihre Kritik nur begrenzt innerhalb der europäischen Institutionen anbringen. Denn die EU-Institutionen sind an die EU-Verträge gebunden und diese können sie nicht selber anpassen. Deswegen verschwindet die Opposition aber nicht. Sie sucht sich einen anderen Weg.
Wenn ein System keine Opposition zulässt, wendet sich die Opposition gegen das System. Jede Kritik, die nicht innerhalb der EU angebracht werden kann, wendet sich gegen die EU als Ganzes.
Die fundamentale Kritik am Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der EU dürfte weiter zunehmen. Millionen von Südeuropäerinnen erleben die zweite grosse Rezession in zehn Jahren, auf welche die EU ungenügend reagiert. Hinzu kommt die Klimakrise. Wenn die Jugend bei der Bekämpfung des Klimawandels nicht genügend Fortschritt sieht, dürfte sich ihre Frustration über die unerfüllte Forderung nach “System Change” in Opposition gegen die EU wenden.
Eine kleine Aufmunterung gefällig?
So. Ich hoffe, dieser Beitrag hat dich genauso pessimistisch gestimmt wie mich. Falls du nun einen EU-Optimismus-Boost benötigst, liest du am besten den nächsten Beitrag. Dort argumentiere ich, weshalb die EU überleben und an Bedeutung gewinnen wird.