Die EU-Kommission richtet eine Steuerbeobachtungsstelle ein – das “EU Tax Observatory”. Ziel ist es, die Praktiken zur Hinterziehung und Vermeidung von Unternehmenssteuern genauer zu untersuchen und Massnahmen dagegen vorzuschlagen. Mit der Gründung und Leitung dieser Beobachtungsstelle hat die EU-Kommission den renommierten Ökonomen Gabriel Zucman beauftragt.
Zucman ist einer der wohl berühmtesten Forscher in Fragen der globalen Steuergerechtigkeit, bzw. Steuerungerechtigkeit. Seine Forschung schmeichelt Steueroasen wie der Schweiz nicht. Wenn Zucman die EU-Politik gegenüber Steueroasen beeinflussen kann, dann hat das auch für die Schweiz Konsequenzen. Was sagt Zucmans Forschung über internationale Steuervermeidung aus? Und wie realistisch ist es, dass sich die EU-Politik gegen Steueroasen verändern wird?
Wie Unternehmen den Steuern entfliehen
Unternehmen umgehen Steuern, indem sie ihre Gewinne in jene Länder verlagern, die am wenigsten Steuern verlangen. Ihre Gewinne verlagern sie durch ein Netzwerk von Tochterunternehmen, die:
- einander Produkte oder Dienstleistungen verkaufen zu Preisen, die nicht viel mit der tatsächlich erbrachten Leistung zu tun haben sondern mit dem Ziel, Aufwände und Erträge steueroptimal zwischen den Tochterunternehmen zu verteilen;
- einander Kredite gewähren, die für die einen Tochterunternehmen zu einem Zinsaufwand und für die anderen zu einem Zinsertrag führen;
- einander für die Nutzung immaterieller Güter (z.B. Markenrechte, Patente) Lizenzgebühren zahlen.
Ein berühmtes Beispiel ist IKEA. Die IKEA-Markenrechte liegen bei der niederländischen IKEA-Holding. Alle anderen Tochterunternehmen müssen der niederländischen IKEA-Holding Lizenzgebühren für die Markenrechte zahlen. Die Lizenzgebühren sind so hoch angesetzt, dass fast kein Gewinn mehr übrig bleibt in den Tochterunternehmen, die hohen Unternehmenssteuern unterliegen. Der Grossteil des Gewinns wird in der Niederlande und in Luxemburg verbucht.
Zucmans Forschung
Es ist bekannt, dass viele Unternehmen solche Steuervermeidungstricks anwenden. Aber das Ausmass war lange nicht klar. Genauso unklar war, woher und wohin die Gelder genau fliessen. Eine der Leistungen Zucmans ist, dass er (zusammen mit Thomas Tørsløv und Ludvig Wier) diese Daten global zusammengestellt hat.
Hierfür teilte er die Unternehmen eines Landes in zwei Kategorien ein. Die eine umfasst ausländische Unternehmen, die zu mehr als 50% in ausländischem Besitz sind. Diese Kategorie beinhaltet die Tochterunternehmen, die zu Gewinnverlagerungszwecken eingesetzt werden können. Die andere Kategorie beinhaltet lokale Firmen (max. 50% in ausländischem Besitz), die somit keine Tochtergesellschaften von multinationalen Firmen sind.
Zucman vergleicht den Gewinn der ausländischen Unternehmen mit jenen der inländischen Unternehmen und zeigt auf, dass ausländische Firmen in Ländern mit relativ hohen Gewinnsteuern weniger profitabel sind als inländische Firmen. In Steueroasen sieht das Bild umgekehrt aus. Dort scheinen ausländische Firmen um ein Vielfaches profitabler zu sein als inländische Firmen. Die beiden Grafiken unten zeigen den Unterschied deutlich.
Abschöpfen statt Wertschöpfen
Zucman und seine Co-Autoren erklären sich die Unterschiede in der Profitabilität mit den Gewinnverlagerungen multinationaler Firmen. In einem weiteren Schritt schauen die Autoren auf die Differenz zwischen den Gewinnmargen der ausländischen und der inländischen Unternehmen und berechnen damit, wieviel Gewinn und Steuersubstrat einigen Staaten entgehen, bzw. andere Staaten zu sich locken können. Die Gewinndifferenz zwischen inländischen und ausländischen Firmen lässt sich – so die Studienautoren – nicht mit der ihnen zugrundeliegenden Wertschöpfung in Zusammenhang bringen, sondern nur mit einer steuervermeidenden Buchhaltung.
Mit weiteren Daten ergänzt, ergibt sich eine Übersicht, wieviel Unternehmensgewinne von woher nach wohin fliessen. Zucman und seine Co-Autoren haben diese Daten in einer übersichtlichen Weltkarte veranschaulicht (siehe Bild unten). Wer die Weltkarte und ihre Informationen selbstständig durchschauen will, kann das hier tun.
Die Daten stammen von 2017 und betreffen also einen Zeitraum, als in der Schweiz die aktuellste Steuerreform noch nicht in Kraft war. Die Zahlen zur Schweiz sind deshalb mit Vorsicht zu geniessen.
Im Jahr 2017 verlagerten Unternehmen laut Berechnungen von Zucman und seinen Co-Autoren 98 Milliarden US-Dollar an Gewinnen in die Schweiz. Das sind 98 Milliarden US-Dollar, die in der Schweiz versteuert werden, obwohl die ihnen zugrundeliegende Wertschöpfung nichts mit der Schweiz zu tun hat. Die Schweiz schöpft von anderen Ländern ab.
Die Autoren der Studie zeigen auch auf, woher die Schweiz diese Werte abschöpft: 16 Milliarden USD werden aus den USA in die Schweiz verlagert, 7,5 Milliarden USD aus Deutschland, 3,2 Milliarden USD aus Frankreich, 2,3 Milliarden USD aus Italien, 300 Millionen USD aus dem seit 10 Jahren mit schlechten Staatsfinanzen kriselnden Griechenland, und so weiter.
Steueroasen in der EU
Was in dieser Studie ebenfalls auffällt: Einige EU-Staaten profitieren genauso von Gewinnverlagerungen wie die Schweiz. 126 Milliarden USD an Unternehmensgewinnen wurden im Jahr 2017 zum Beispiel nach Irland verlagert, 79 Milliarden USD in die Niederlande. Kleine EU-Länder wie Malta, Zypern und Luxemburg profitieren ebenfalls. Die absoluten Beträge sind hier nicht ganz so eindrücklich, aber im Verhältnis zu den tiefen Staatsbudgets sind sie umso wichtiger.
Fast alle anderen EU-Staaten gehören zu den Verliererinnen. Aus Deutschland werden zum Beispiel 66 Milliarden USD an Gewinnen “wegverlagert”. Aus Frankreich sind es 40 Milliarden USD.
Deshalb ist es vielen Regierungen von EU-Mitgliedstaaten und vielen Parlamentarierinnen im EU-Parlament ein Anliegen, diesen Gewinnverlagerungen ein Ende zu bereiten. Und so ist auch die Nominierung Gabriel Zucmans zum Chef der neuen EU Steuerbeobachtungsstelle nicht verwunderlich. Mit dieser Ernennung erhält ein bekannter Kritiker der aktuellen Steuerpraktiken mehr Autorität und ein gewisses Mass an offizieller Unterstützung. Aber auch aus dieser Position wird er erstmal nur beobachten, analysieren und Vorschläge machen können.
Das (fast) allmächtige Veto
Es ist gut möglich, dass die EU-Kommission seine Analysen Empfehlungen für neue Vorschläge zur Regulierung der Unternehmenssteuern in der EU aufnimmt. Aber für Regulierungen in Steuerfragen braucht es im EU-Ministerrat Einstimmigkeit. Das heisst, die Ministerinnen aus den Niederlanden, Malta, Irland, Zypern und Luxemburg haben ein Veto. Es wird äusserst schwierig, die Regierungen dieser Länder dazu zu bewegen, die Geschäftsmodelle ihrer Volkswirtschaften anzupassen.
Das zeigt aktuell der Fall der Rechtsstaatlichkeitsklausel im mehrjährigen Finanzrahmen, gegen den sich die Regierungen Polens und Ungarns sträubten. Erst unter der Drohung, dass gar kein EU-Budget (und demnach kein EU-Geld für Ungarn und Polen) verabschiedet wird, und nach mehreren Abschwächungen der Klausel liessen sie ihr Veto fallen.
Aber es gibt Steueroasen ohne Veto im EU-Rat, zum Beispiel die Schweiz. Es ist einfacher für die EU-Regierungen im Ministerrat, sich auf die Bekämpfung von Steueroasen ausserhalb der EU zu einigen. Das wäre vielleicht nicht sehr kohärent und prinzipientreu. Aber Kohärenz und Prinzipientreue haben kein Veto im EU-Rat.
Insofern darf die Ernennung Gabriel Zucmans zur Leitung der EU Steuerbeobachtungsstelle als kleiner Warnschuss vor den Bug des schweizerischen Steuersystems wahrgenommen werden.
Exkurs – Was ist das Problem am Steuerwettbewerb?
Der Steuerwettbewerb schränkt die Handlungsfähigkeit von Staaten ein. Staatsskeptikerinnen begrüssen diesen Effekt, weil er Staaten unter Druck setzt, möglichst wenig zu besteuern. Das Problem ist, dass der Steuerwettbewerb systematisch jene bevorzugt, die mobil sind und somit vom Steuerwettbewerb profitieren können:
- Finanzkapital ist mobiler als Arbeit, denn in Zeiten des freien Kapitalverkehrs kann ich mein Geld weltweit investieren, während meine Arbeit nur dort wertvoll ist, wo ich meine Ausbildung, meine Sprache und meine Beziehungen einsetzen kann.
- Gutverdienende sind mobiler als Schlechtverdienende, denn für Erstere lohnt es sich, trotz höherer Immobilienpreise an steuergünstigere Orte umzuziehen, für Letztere nicht.
- Grosse Unternehmen sind mobiler als kleine Unternehmen, denn für grosse Unternehmen lohnen sich teure Steuerberatungen und ein Geflecht an Tochterunternehmen, mit denen sie Gewinne international verschieben. Für kleine Unternehmen nicht.
Das heisst: Steuerwettbewerb bevorzugt systematisch die Grossen und Reichen. Er erschwert demokratische Entscheidungen für mehr Umverteilung und höhere Besteuerung, weil sie einfach umgangen werden können.