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EU verstehen Schweiz

Zürich-Brüssel einfach

Eindrücke aus der ersten Fahrt in die Hauptstadt – Eine kleine Reise durch Europa.

05:54 Uhr

Wir eilen durch den Hauptbahnhof Zürich. In sechs Minuten fährt unser Zug nach Brüssel. Wir gehören zu den ca. zehn Prozent der Passanten, die Maske tragen. Einsame Rebellion gegen das Virus.

06:53 Uhr

Wir treffen in Basel ein. Unser Gegenüber im Abteil zieht sich die Maske an. Ab jetzt zählen die Regeln der deutschen Bahn. 

Ein Roche-Turm schaut runter auf das Volk. Ein zweiter arbeitet sich zu ihm hoch. Einer patriotischen Pharma-Lobbyistin muss bei diesem Anblick warm ums Herz werden. Bestärkt würde sie nach Brüssel weiterreisen im Kampf gegen die schlechten und für die guten Handelshemmnisse.

08:44 Uhr

Zwischenhalt in Karlsruhe. Vor knapp zwei Monaten setzte eine Gruppe deutscher Verfassungshüter von hier aus einen Warnschuss vor den Bug der europäischen Währungshüterin in Frankfurt – und damit ganz Europa in Aufregung. Wir fahren weiter, entlang der Flugbahn der Karlsruher Kanonenkugel.

09:14 Uhr

Der Zug hält in Mannheim. Ich muss an die «Söhne Mannheims» denken und an die kruden Verschwörungstheorien von Xavier Naidoo. Für die nächsten Minuten kämpfe ich gegen “Dieser Weg” Lyrics in meinem Kopf. 

10:15 Uhr

Wir treffen in Frankfurt ein, vermögen aber nicht dieselbe Aufregung zu bewirken wie die kürzlich hier eingetroffene Karlsruher Kanonenkugel. In Frankfurt befindet sich der Sitz der Europäischen Zentralbank – Retterin Europas während der Euro-Krisen. Ihre Beinahe-Entmachtung durch das deutsche Verfassungsgericht hatte eine derartige politische Gegenreaktion zur Folge, dass eine Fiskal-Union nun in greifbarer Nähe scheint. Die europäischen Länder werden zum ersten Mal gemeinsame Schulden aufnehmen. Durch Corona und Karlsruhe in die Ecke gedrängt, legt Europa den Vorwärtsgang ein.

Der Sackbahnhof in Frankfurt zwingt uns ebenfalls zum Richtungswechsel. Wir steigen um.

Hier tragen wohl 90% der Reisenden eine Maske. Der Rebellen-Charme ist dahin, meine Maske beginnt zu jucken.

12:16 Uhr

Aachen… das sagt mir was… War das nicht mal die Hauptstadt eines Kaiserreichs? Eine kurze Wikipedia-Recherche gibt mir Recht. Karl der Grosse eroberte von hier aus Gebiete im heutigen Katalonien, Nord- und Mittelitalien, Kärnten, Bayern und Sachsen. Seit 1950 wird in Aachen jährlich der Karlspreis für Verdienste um die europäischen Einigung vergeben. Das ist sicher gut gemeint. Wie ein Feldherr, der Europa militärisch einnahm, als Vorbild für die europäische Einigung taugen soll, bleibt mir vorerst unklar.

Mir tut der Oberbürgermeister Aachens leid. Ich stelle mir vor, wie er nach dem Tod wie alle obersten Aachner in den Aachner Olymp aufsteigt und dort auf Karl trifft. Dieser fragt ihn nach den Unruhen in Barcelona und den Steuereinnahmen aus Rom. Worauf der Oberbürgermeister nur antworten kann: “Wir haben haben mehr Fahrradabstellanlagen gebaut.”

Ich freue mich für die Bürgerinnen Aachens, deren Oberbürgermeister sich um Fahrradabstellanlagen sorgen muss, statt Italienern den Kopf einzuschlagen. Und ich freue mich für die Italiener und ihre unversehrten Köpfe.

12:29 Uhr

Das kurze Funkloch nach der Überquerung der deutsch-belgischen Grenze reisst mich aus einem Internet-Recherche-Wurmloch zu Karl dem Grossen.

12:44 Uhr

Der Zug verlangsamt sich, um in Liège (Lüttich) einzufahren. Ein Graffiti heisst den aufmerksamen Zug-Passagier willkommen: “UTERUS” steht in dick gesprayten Buchstaben. Verdutzt schaue ich auf die am Fenster vorbeiziehende Stadt. Das Bild prägen leere Strassen, süsse Backstein-Reihenhäuser und weniger süsse Industrie-Ruinen. Vor sechzig Jahren muss hier was los gewesen sein. Die futuristische Perron-Überdachung am Bahnhof vermag nicht zu überzeugen. Aus unserem Zug-Waggon will niemand aussteigen. Das lebensbejahende Eingangsgraffiti wird durch das vom Zug ersichtliche Gesamtbild der Stadt leider nicht unterstützt. 

13:02 Uhr

Wir rasen in Richtung Brüssel. Es ist alles so schön flach hier. Ideal, um mit einer Panzer-Armee schnell viel Boden gutzumachen. Oder mit dem Schnellzug. 

13:26 Uhr

Wir fahren in Brüssel Nord ein und werden wieder von einem Graffiti begrüsst: “Idiot” steht da zwar, doch im O versteckt sich ein Friedenszeichen. Beschreibt da eine unanständige Pazifistensprayerin den Zweck der EU? Wo Beschimpfungen über den Verhandlungstisch schiessen, dafür aber keine Kugeln über Frontlinien? 

Ich gelobe, nicht überall Metaphern für Europa zu suchen.

14:01 Uhr

Mittlerweile in Brüssel angekommen, ziehen wir unsere Koffer polternd durch die unebenen Strassen Brüssels.

“Dieser Weg ist steinig und schwer.” 

Verdammt, halt die Klappe, Xavier! 

Wir kommen an eine Rue de Suisse. Ich stehe auf die Zehenspitzen, um in das Fenster des Gebäudes zu schauen, an dem das Strassenschild hängt. 

Das Büro an der Rue de Suisse steht leer. 

Mein Metaphern-Gelübde hat genau 35 Minuten überlebt.